17. Jahrgang | Nummer 26 | 22. Dezember 2014

Indien erneut auf globalem Höhenflug?

von Edgar Benkwitz

Indien, der neue global player – noch vor einigen Jahren waren das die Schlagzeilen der internationalen Presse. Das Land wurde auf Grund seiner beeindruckenden Zuwachsraten neben China gerückt, das indo-chinesische Jahrhundert ausgerufen. Mit dem Begriff Chindia versuchten die Medien, die Ängste des deutschen Kleinbürgers zu schüren. Denn was sollte das zurückfallende Europa gegen die gebündelte Kraft von zweieinhalb Milliarden Menschen tun? Doch die internationale Finanzkrise und die anschließende weltweite Rezession holten Indien schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Während China auch weiterhin mit Erfolgsmeldungen aufwartete, mit seiner stabilen Entwicklung die Weltwirtschaft stützte, kamen aus Indien nur noch negative Nachrichten. Zusätzlich zu den wirtschaftlichen und sozialen Problemen war auch die politische Führung des Landes in Untätigkeit verfallen, so dass ein Wechsel an der Spitze des Staates immer dringlicher wurde. Dieser wurde schließlich mit dem überwältigenden Wahlsieg der hindunationalistischen Indischen Volkspartei(BJP) vollzogen.
Die neue indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi ist nun seit mehr als einem halben Jahr im Amt. In Indien wird eine erste Bilanz gezogen, die überwiegend positiv ausfällt.
Gewürdigt werden eine auf Schwerpunkte orientierte, aktive Regierungsarbeit, die hoffen lässt, dass sich das Land wirtschaftlich erholt. Das anfällige Finanzsystem befindet sich in der Stabilisierung, wobei der fallende Ölpreis wie ein Geschenk daherkommt. Indien ist für Auslandsinvestitionen attraktiver geworden. Allein Japan, China und die USA werden in den nächsten Jahren Kredite von über 100 Milliarden Dollar ausreichen.
Die Regierung hat begonnen, das bisher stark regulierte Wirtschaftssystem aufzubrechen. Der Privatsektor mit seinen großen Wirtschaftskonglomeraten, aber auch das Auslandskapital, erhalten jetzt Zugang zur Verteidigungsindustrie, dem Transportwesen, der Bauwirtschaft, dem Versicherungs- und Bankenwesen. Das soll die dringend benötigten Arbeitsplätze schaffen. „Make in India“ – Produziere in Indien – , dieser von Modi geprägte Slogan soll weitere Investitionen und das benötigte technische Wissen ins Land holen. Doch die großen westlichen Konzerne zögern, noch sind ihnen die Reformen und der Bürokratieabbau nicht weitgehend genug. Von der indischen Regierung werden weitere Vorleistungen verlangt. Die werden kommen, doch es gibt auch Grenzen. Zum einen soll das einheimische Kapital den größten Teil des Kuchens abbekommen, zum anderen sollen hochtechnologische Produkte nicht geliefert, sondern in Indien gefertigt werden. Der französische Rüstungskonzern Dassault bekommt das mit dem vereinbarten 16-Milliarden-Dollar-Geschäft zur Lieferung von 126 „Rafale“-Kampfflugzeugen zu spüren, denn Indien besteht darauf, den überwiegenden Teil davon im Lande zu fertigen. Die neue Regierung hat noch ein weiteres Problem. Sie muss einen Spagat zwischen schneller Modernisierung des Landes und dem in der Partei tief verwurzelten hinduistischen Nationalismus vollziehen, der sich rückwärtsgewandt und hemmend zeigt.
Der neue Premierminister hat es schnell geschafft, sich auf der internationalen Bühne einzuführen. Der als Provinzpolitiker mit nationalistischem Zuschnitt geltende Modi zeigt sich zum Erstaunen vieler staatsmännisch und weltoffen. Die seit 2005 von den USA und den EU-Staaten geltende Einreisesperre war nach seiner Wahl schnell vergessen. In Neu Delhi geben sich westliche Politiker die Klinke in die Hand, Narendra Modi wird von allen voll akzeptiert.
Anknüpfend an die großen Traditionen seiner Außenpolitik ist Indien gegenwärtig dabei, auf globaler und regionaler Ebene wieder eine größere Rolle zu spielen, wobei es sich an das veränderte Umfeld anzupassen versucht. Dabei holt das Land groß aus, denn vor allem die USA, Japan, China und Russland stehen im Zentrum der indischen Bemühungen. Deren strategische Interessen gegenüber dem süd- und südostasiatischen Raum versucht Indien auszunutzen, um so Vorteile für die eigenen Positionen zu erlangen. Gegenwärtig dreht sich vieles um die USA, für die Narendra Modi noch vor einem halben Jahr eine persona non grata war. Heute lässt der amerikanische Präsident keine Gelegenheit aus, den neuen indischen Premier in den höchsten Tönen zu loben. Modi weilte Ende September zum Staatsbesuch in Washington. Nun wird bereits im Januar Präsident Obama zum Gegenbesuch in Indien erwartet, wo er sogar Ehrengast zu den Feierlichkeiten zum Tag der Republik ist. Das stößt nicht überall auf Zustimmung, denn mit der „lame duck“, dem angeschlagenen Obama, Staat zu machen, geht manchem Vertreter der indischen Elite zu weit. Diese fordern auch, die Konsequenzen eines stärkeren Zusammengehens mit den USA, das letztendlich gegen China gerichtet werden soll, gründlich zu durchdenken. Chuck Hagel, noch vor kurzem US- Verteidigungsminister behauptete, dass die Sicherheitsinteressen Indiens und der USA im Einklang miteinander stehen. Daher sollte nun die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung unter Einbeziehung Japans entwickelt werden. Doch Indien ist nicht nur selbstbewusster geworden, es will Distanz zu den USA bewahren. Anlässlich des Besuchs von Präsident Putin vor wenigen Tagen erklärte es erneut, dass es sich nicht an Sanktionen gegen Russland beteiligen wird. Auch betrachte es die Zunahme der internationalen Spannungen mit Sorge und versuche, dem entgegenzuwirken. Mit Hilfe Russlands hängt Indien gegenüber den USA die Latte hoch. Russland bleibt der wichtigste Partner auf dem Verteidigungssektor, jetzt soll ein moderner russischer Hubschrauber komplett in Indien gefertigt werden. Es liefert auch in einem bedeutenden Umfang Reaktoren für Kernkraftwerke, eine Entscheidung, von der westliche Konzerne noch Abstand nehmen.
In Neu Delhi wird nun spekuliert, ob es gelingt, durch eine bedeutende Erweiterung der indisch-amerikanischen Beziehungen im geostrategischen Poker gegenüber China zu punkten. Dessen Präsident Xi Jingpin weilte im September zum Staatsbesuch in Indien. Doch das demonstrativ zur Schau gestellte herzliche Verhältnis zwischen Xi und Modi konnte nicht verbergen, dass es in wichtigen Sachfragen nicht recht vorangeht. China beteiligt sich zwar verstärkt mit Investitionen in der Infrastruktur, bleibt aber weit unter den von beiden Seiten geäußerten Erwartungen. Auch in der leidigen Grenzfrage bleibt die völkerrechtliche Festlegung der 4.000 Kilometer umfassenden Grenze (und damit der endgültige Besitz bedeutender Territorien) trotz vieler wohlwollender Worte in der Schwebe. Immerhin fällt an der „Line of Actual Control“ seit Jahren kein Schuss, und ein durch beide Seiten vertraglich geregelter Mechanismus klärt schnell auftretende Irritationen. Indien muss erfahren, dass China unbeirrt seine strategischen Ziele verfolgt, dazu gehört der nun mit Pakistan konkretisierte Plan, stabile Verbindungen zwischen Nordwestchina und dem Arabischen Meer (Eisenbahn, Pipelines) zu bauen. Diese Maßnahmen berühren jedoch den von Pakistan verwalteten Teil Kaschmirs, der von Indien beansprucht wird. Indische Interessen werden so grundlegend angesprochen. Es zeigt sich nun, dass die von Indien gewünschte endgültige Grenzfestlegung mit China mehr und mehr mit der Regelung der Kaschmirfrage und somit des Verhältnisses Indiens zu Pakistan verknüpft ist.
Was ist zu tun? Einfach diese Fragen ausklammern, oder Gegengewichte aufbauen? Die indische Außenpolitik steht vor keinen leichten Entscheidungen. Vielleicht hilft die – übrigens von einem Inder in die Welt gesetzte – Idee von Chindia. Von westlichen Medien als Bedrohung behandelt, bündeln sich in ihr auch Erwartungen und Hoffnungen nach einer gerechteren Weltordnung und einer Überwindung der Rückständigkeit. In diesem Sinne tatkräftig zu werden, könnte Indiens großen Traum, in der Liga der global players mitzuspielen, näherrücken lassen.