17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

Rätsel des Alltags

von Erhard Weinholz

1899? Vielleicht schon 1899, also im Erscheinungsjahr, vielleicht auch ein paar Jahre später hat Anna Schultz, New York, sich das Text-Book of Nursing gekauft. Es kann aber auch ein Geschenk gewesen sein. Oder hat sie es gar mitgehen lassen? Das wohl kaum, es passt nicht zum Berufsbild: N. Y. sagt Pfui!! Krankenschwester klaut Fachbuch! Gut erhalten ist dieses Text-Book, der braunrote Einband fleckenlos, die Goldschrift auch am Rücken unverblasst. Hat sie es selten genutzt? Auf alle Fälle haben die beiden sich irgendwann getrennt: Von seiner Besitzerin kann ich nichts weiter vermelden, das Textbuch hingegen hat es nach Berlin verschlagen, in die Wühlkiste eines Trödlers an der Bergmannstraße. Ist es im Gepäck der U. S. Army nach Berlin gekommen? Oder war es eine Spende fürs Amerika-Haus, die man dort gleich wieder ausrangiert hat? Dass ich fast nichts von seinem Vorleben weiß, so richtig bewusst macht mir das erst der handschriftliche Eintrag Anna Schultz New York.
Nicht nur Bücher haben ihre Schicksale. Auch der Eierschneider, der irgendwie, irgendwann in meinen Haushalt gelangt ist, hat vermutlich mehr erlebt als zum Beispiel meine biederen DDR-Teller. Er trägt die Inschrift D.R.G.M., und dieses D.R. ist bekanntlich im Mai 1945 verschwunden. Außer den vier Buchstaben ist seiner matt glänzenden Oberfläche nichts abzulesen, keine Gebrauchsmuster-Nummer, kein Name, der auf die Zeitläufte verweist: Excelsior, Herkules oder Nordland vielleicht. Phantasien über sein Schicksal fördert dieser Umstand leider nicht, denn dem Eierschneiden an sich kann der Geist nicht viel abgewinnen.
Manches Jahr stand das Ding ungebraucht in meinem Küchenschrank, Zeuge einer Zeit, in der man viel Wert aufs kulinarische Dekor legte. Aufbewahrt hatte ich es nur für alle Fälle – so wie man heute stets ein Präservativ im Portemonnaie mit sich führt. Eines Tages dann habe ich entdeckt, dass man mit dem Gerät mühelos kleine Kartoffeln schneiden kann. Bleibt seine Vergangenheit auch im Dunkeln, so hat es nun doch zumindest eine Zukunft. Es sei denn, der Kartoffelsalat teilt irgendwann das Los von Brühpolnischer, Mehlschwitze und Falschem Hasen, die nur bei einigen Ewiggestrigen noch auf den Tisch kommen.
Bei einem dritten Stück ist wenigstens klar, wo es herstammt; es ist ein tiefer Teller, von mir der Große Staatsteller genannt. Er ist tatsächlich groß: 28 Zentimeter Durchmesser. Auf dem Rand in Goldfarbe der gallische Hahn mit den Initialen RF auf der Brust, und auf der Rückseite des Bodens liest man MINISTÈRE AFFAIRES ETRANGÈRES 1903. Damals liebte man die Galaempfänge, die klassische Speisenfolge mit der Suppe als zweitem Gang. Ein Abends, ein vatikanischer Würdenträger war zu verabschieden, passierte ein Missgeschick: Der Teller stand schon bereit für die Kraftbrühe Dante, Hühnerbrühe mit Tauben-Essenz, Safranklößchen sowie Streifen von Trüffeln und Ochsenzunge, der Staatssekretär wollte ein paar Worte von sich geben, schlug vorsichtig mit dem Löffel an den Tellerrand, doch Seine Eminenz waren zu sehr ins Gespräch mit der alten, höchst spendenfreudigen Herzogin vertieft. Zweiter Versuch Seiner Exzellenz, dritter Versuch, recht kräftig… endlich hatten sie es gehört, aber jetzt hatte das Porzellan einen Sprung.
Am nächsten Morgen wurde der Teller ausrangiert, ein paar Tage darauf kam er in die ärmliche Küche der Tante eines kleinen Ministerialangestellten. Vorbei war es mit Delikatessen wie der besagten Kraftbrühe; Arme-Leute-Gerichte füllten ihn fortan, Mongolische Suppe zum Beispiel, wahrscheinlich der Farbe wegen so genannt, aus gelben Trockenerbsen und Tomatenmark. Doch Teller sind bekanntlich geduldig. Manches hat er später noch durchgemacht, hat Emigranten ebenso gedient wie Hochstaplern und Offizieren, bis er auf dem Berliner Mauerpark-Markt für ein paar Euro seinen vorerst letzten Besitzer fand.
Aber welchen Weg hat er nun wirklich genommen? Wir schicken Sonden zum Mars, fangen Neutrinos ein, entschlüsseln unsere Gene; dies dagegen bleibt ein unlösbares Rätsel. Meine Freundin D. bezweifelt allerdings, dass es gut sei, wenn sich alles, aber auch wirklich alles aufklären lasse. Das bringe doch bloß noch mehr Ärger, meinte sie. Wahrscheinlich hat sie wieder einmal Recht.