17. Jahrgang | Nummer 24 | 24. November 2014

Entdeckung im Ballon

von Dieter B. Herrmann

Unaufhörlich prasseln Teilchen aus dem Weltall auf uns ein. Doch sie schaden uns nicht. Die Evolution des Lebens auf unserem Planeten hat sich unter diesem Bombardement entwickelt. Wir sind daran gewöhnt. Schon die Einzeller haben keine Teilchenallergie entwickelt, sondern sich zu Mehrzellern entwickelt. Es war uns Menschen vorbehalten, den differenziertesten Vielzellern, in Erfahrung zu bringen, dass es eine solche Teilchenstrahlung überhaupt gibt. Das aber geschah erst spät in der Menschheitsgeschichte. Nicht einmal die Griechen, die doch sonst fast alles schon voraus gedacht haben, hatten die leiseste Ahnung davon. Erst im 20. Jahrhundert konnten wir lernen, dass wir aus dem Universum unablässig beschossen werden und trotzdem keine ärztliche Hilfe benötigen. Und das kam so: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich viele Physiker mit der elektrischen Leitfähigkeit von Gasen und benutzten dazu sogenannte Elektrometer, mit denen man Ladungen und Spannungen anzeigen kann. Doch diese entluden sich merkwürdigerweise immer wieder von selbst. Es sah so aus, als ob die gewöhnliche Luft, die wir ununterbrochen atmen, selbst elektrisch leitfähig wäre. Doch warum? Einige Physiker vermuteten, dass es eine Strahlung aus dem Kosmos geben könnte, die dieses Phänomen bewirkte. Um dem nachzugehen, wurden die Elektrometer unter Bleiabschirmungen gebracht – vergebens. Die Entladungen erfolgten zwar langsamer, aber sie unterblieben nicht. Vielleicht war auch die gerade erst 1896 entdeckte Radioaktivität schuld? Man wusste inzwischen, dass sich radioaktive Elemente eigentlich überall befanden und ständig strahlten. Diesen Einfluss sollte man ausschalten können, indem man sich aus den Laboratorien auf der Erde entfernte. So musste zunächst der Eiffelturm in Paris herhalten, immerhin ganz oben rund 300 Meter vom Erdboden entfernt.
Das erwartete Ergebnis blieb auch diesmal aus. Da entschloss sich der österreichische Physiker Viktor Hess 1912 zu einem beherzten Experiment: Er brachte seine Instrumente an Bord eines Höhenballons und flog 5.000 Meter hoch in die Atmosphäre. Sein Ergebnis war verblüffend: das Elektrometer entlud sich nun noch deutlich schneller als auf der Erde oder auf dem Eiffelturm. Es schien sich also tatsächlich um eine aus dem Kosmos kommende Strahlung zu handeln. Doch Wissenschaftler sind skeptisch. Kollegen von Hess hielten das Ganze für einen möglichen Messfehler. Noch acht Jahre später versuchte der US-amerikanische Physiker Robert A. Millikan die Ergebnisse – ebenfalls an Bord von Höhenballons – zu widerlegen. Letztlich aber bestätigten sich die Erkenntnisse von Hess.
Nun begann das Rätselraten. Worum könnte es sich bei dieser Art von Strahlung handeln? Kommt sie vielleicht von der Sonne (über die man damals auch noch wenig wusste)? Dafür sprach eine Korrelation mit der Sonnenzeit. Doch bei totalen Sonnenfinsternissen, da doch der kompakte Körper des Mondes die Strahlung hätte abschirmen müssen, stellte man keinen merklichen Rückgang fest. Da schaltete sich sogar Nobelpreisträger Walter Nernst in die Debatte ein und empfahl nach einer Korrelation mit der Sternzeit Ausschau zu halten. Wegen der Bewegung der Erde um die Sonne gibt es nämlich einen zeitlichen Unterschied zwischen zwei aufeinander folgenden Durchgängen der Sonne durch die Südrichtung (Sonnentag) und zwei Durchgängen eines beliebigen Sterns (genauer: des sogenannten Frühlingspunktes, Sternzeit) von knapp vier Minuten, um den der Sterntag kürzer ist, so dass die Differenz rund einen Tag pro Jahr ausmacht.
Tatsächlich wurde eine solche Verbindung nachgewiesen. Das war ein deutlicher Hinweis darauf, dass die ominöse Strahlung aus den Tiefen des Weltalls stammen musste. Ihre Natur wurde erst nach und nach entschlüsselt, als immer bessere Messinstrumente zur Verfügung standen. Dabei zeigte sich nun, dass es sich gar nicht um Gammastrahlung handelte, wie anfangs vermutet wurde, sondern um einen Strom elektrisch geladener Teilchen. Trotzdem behielt man die nur noch historisch gerechtfertigte Bezeichnung „Strahlung“ bei, manchmal durch den Begriff „Teilchenstrahlung“ präzisiert. Es handelt sich hauptsächlich um Protonen, Elektronen und die Kerne von schwereren Atomen. Was wir allerdings auf der Erde nachweisen, sind keineswegs diese ursprünglich ankommenden Teilchen. Diese kollidieren vielmehr bereits am Rande unserer irdischen Atmosphäre in über 20 Kilometern Höhe mit dort vorhandenen Sauerstoff- oder Stickstoffatomen und lösen Schauer vonTeilchen aus, die wir insgesamt als Sekundärstrahlung bezeichnen. Ein einziges Proton hoher Energie kann dabei mehr als eine Million Sekundärteilchen auslösen.
Die meisten von ihnen existieren allerdings nur so kurze Zeit, dass sie die Oberfläche der Erde trotz ihrer großen Geschwindigkeit gar nicht erreichen. Dennoch sind die kaskadenartigen Schauer der sekundär erzeugten Strahlung und Teilchen, die am Boden des Luftmeeres ankommen von entscheidender Bedeutung für die Erforschung der kosmischen Strahlung. Außerhalb der Atmosphäre sind die Flussdichten sehr gering und man würde große Empfängerflächen sowie lange Messzeiten benötigen. Deshalb ist der Nachweis der Sekundärschauer einschließlich der daraus sich ergebenden Schlussfolgerungen für die Primärstrahlung der bessere Weg. Moderne Detektorsysteme, die mit den einstigen simplen Elektrometern nicht mehr viel zu tun haben, erfassen die Energien der Teilchen, aber auch ihre Herkunftsrichtungen. Das Flaggschiff der „Teleskope“ für kosmische Strahlung ist das Pierre-Auger-Observatorium auf einer Hochebene der argentinischen Pampa. Hier sind 1.600 Messstationen über eine Fläche von 3.000 Quadratkilometern verteilt. Sechs deutsche Teams wirken an den Forschungen mit. Die bisherigen Messergebnisse zeigen, dass Energien von Primärteilchen bis zu 320 Trillionen Elektronenvolt vorkommen! Das entspricht etwa dem 200 Millionenfachen dessen, was wir mit unseren leistungsstärksten Beschleunigern derzeit erreichen. Man stelle sich vor: Auf ein einziges hochbeschleunigtes Protonen entfällt dieselbe kinetische Energie, die ein Körper von einem Kilogramm Masse besitzt, wenn man ihn von der Spitze des Eiffelturms zur Erde fallen lässt. Die Masse eines Protons beträgt aber nur rund 10–27 Kilogramm (das sind 0, 000 000 000 000 000 000 000 000 001 kg). Teilchen mit Energien oberhalb von 56 Trillionen Elektronenvolt entstammen hauptsächlich den Kernen aktiver ferner Sternsysteme.
Da ist die Frage nahe liegend: welcher Mechanismus verleiht ihnen diese enormen Energien? Es gibt zwar eine Reihe von Erklärungsversuchen, die sehr wahrscheinlich den tatsächlichen Ursachen der hohen Teilchenenergien schon sehr nahe kommen, aber endgültige Klarheit herrscht noch nicht. Erst in jüngerer Zeit konnten die durchaus unterschiedlichen Quellen der Teilchen, die sich durch ihre Energien und Flussdichten unterscheiden, überhaupt voneinander getrennt werden. So weiß man jetzt, dass es kosmische Strahlung sowohl von der Sonne, als auch aus dem Raum unserer Galaxis gibt. Die Höchstenergien treten aber bei Strahlung aus dem extragalaktischen Bereich auf. Für die galaktische Strahlung könnten Ausbrüche von Supernovae maßgebend sein, die mit der explosionsartigen Zerstörung eines ganzen Sterns einhergehen. Dabei treten magnetische Schockwellen im interstellaren Medium auf, die auf elektrisch geladene Teilchen beschleunigend wirken. Neuerdings sind auch bei Nova-Ausbrüchen energiereiche Gammastrahlen entdeckt worden – eine große Überraschung für die Forscher. Möglich also, dass auch Novae als Quellen der hohen Teilchenenergien der kosmischen Strahlung in Frage kommen.
Für die extrem energiereiche extragalaktische Komponente der kosmischen Strahlung könnten hingegen Schwarze Löcher in den Kernen der Galaxien mit ihren Strahlungsjets verantwortlich sein. Eine genaue Lokalisierung ist meist schwierig, da kosmische Magnetfelder die Teilchen ablenken, so dass sie schließlich aus allen Richtungen (isotrop) bei uns eintreffen. Nur wegen der häufig gleichzeitig auftretenden Gammastrahlung kann man den Ursprung dann zuordnen. Völlig hypothetisch ist derzeit noch die Annahme, dass es in der Frühzeit des Universums exotische Teilchen gegeben haben könnte, deren Kollaps die hohen Energien der kosmischen Strahlung erklärt. Die Forschungen sind voll im Gange und zahllose Fragen noch offen.
Viktor Franz Hess starb am 17. Dezember vor 50 Jahren in New York. 1936 hatte er für die Entdeckung der kosmischen Strahlung den Nobel-Preis erhalten.