17. Jahrgang | Nummer 21 | 13. Oktober 2014

Bring den Boten um!

von Mascha Werthmann

Offen diskutieren, überzeugen, abstimmen – so das Motto des „Disput\Berlin!“ am 1. Oktober im FAZ-Forum. Jutta Falke-Ischinger, Gattin des deutschen Spitzendiplomaten und Leiters der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat das Konzept in Deutschland importiert. Dreimal können die Zuhörer am Abend per TED ihr Votum abgeben – und zeigen, welcher Seite ihre Sympathien zuneigen. Das Motto des Abends lautete „Verschläft Deutschland seine Zukunft?“, was wohl nur Diplomaten-Entourage für provokant oder gar gewagt halten könnte.
Trotzdem wird die Debatte beschwingt: Nachdem Bert Rürup den Bedenken das Wort geredet hat, springt der BDI-Präsident Markus Kerber, eloquenter und gewitzter Schwabe, für seinen Standort in die Bresche: Was über 150 Jahre erfolgreiche Unternehmen hervorgebracht habe, müsse sich schließlich nicht verstecken. Bei diesem Argument schwant dem Zuhörer bereits, auf welche Konfrontation dieser Abend hinauslaufen könnte – und was der BDI-Chef wohlweislich verschweigt.
Deutschland hat hervorragende Industrieunternehmen. Sie sind quasi sämtlich aus dem späten 19. Jahrhundert hervorgegangen und haben seitdem äußert widrige Zeiten überstanden – wie Kerber zu Recht betonte. Aber mag das vielleicht daran gelegen haben, dass sie gut aufgestellte Industrieunternehmen in der Epoche der Industrialisierung gewesen sind? Und was, wenn sich die Epoche geändert hat? Das Vertrauen, das wir Kerbers Überzeugung nach weiterhin haben sollten, ist das Vertrauen, das ein industriell sehr effizientes und gut organisiertes Land hatte in einer Ära, in der es die richtigen Tugenden besaß. Und heute?
Der aufkeimende Zweifel wird durch den Beitrag der „Internetbeauftragten“ der Bundesregierung genährt. Gesche Joost ist Professorin für „Designforschung“. Design? Das muss doch per se innovativ sein? Von wegen. Frau Joost betritt das Podium vor einer Leinwand, auf der ihr Eröffnungsstatement eingeblendet ist. Dieses ist so lang, dass es in der Einblendezeit auch von schnellen Lesern kaum erfasst werden kann. Irgendwo im hinteren Teil steht der Satzbaustein: „Der Weg muss mit Bedacht beschritten werden…“
DER WEG MUSS MIT BEDACHT BESCHRITTEN WERDEN? Als Teil mehrerer Schachtelsätze? Das ist das Statement der Zuversichtlichen, der Innovativen? Das ist eher preußische Bürokratie. Keine Sorge: Auch die hat ihre Meriten. Die Frage ist nur: Passt diese Arbeitsweise in unsere Zeit? Thomas Heilmann, Berliner Senator für Justiz und Verbraucherschutz, scheint das zu glauben: Die Stärke des deutschen Systems sei es, „langsam und gründlich“ zu arbeiten. Daraus entstünden nämlich Konsens und eine versöhnte Gesellschaft.
Roland Tichy, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, sieht das anders. Wir seien „die Feinmechaniker der Welt“, in der „digitalen Welt aber eher der Fußabtreter“, beschreibt er den aktuellen Zustand. Und da ist das Schlagwort. Denn das Podium redet vorgeblich über Deutschland. In Wahrheit geht es aber gar nicht darum, wie Deutschland ist, es geht darum, wie die Welt ist. Das Podium ist nicht geteilt zwischen Optimisten und Pessimisten, es ist geteilt zwischen Digitalen und Industriellen.
Dann kommt Richard David Precht, und er hat genau das als erster der Redner erkannt. Precht spricht von der Digitalisierung als größtem gesellschaftlichen Umbruch seit der Industriellen Revolution. Für Christoph Matschies Lob auf das Bildungssystem hat er nur ein Schnauben übrig: Zwei Drittel der Kinder würden eines Tages in Berufen arbeiten, die heute noch gar nicht existierten. Wie dieser „quartäre Sektor“ aussehen werde und welche Kompetenzen dafür benötigt würden, sei für die heutige Bildungspolitik eine Black Box.
Das scheint die „Internetbeauftragte“ zu bestätigen. In einer wenig inspirierten Rede reiht sie alle inhaltsleeren Schlagwörter aneinander, die die Bundesregierung vorrätig hat: nachhaltig, sozial, gemeinsam, bedacht, ökologisch. Aus ihrem Mund spricht, ganz Übermutter, Angela Merkel, die „der Bevölkerung“ die Angst vor dem „Neuland“ nehmen möchte.
Und so geht es eine Weile hin und her. Mal bekommt der eine Applaus, mal der andere, und oft ist es Kerber – schlicht deshalb, weil er rhetorisch so glänzt und bissig sein kann. Die Skeptiker auf der Bühne beschuldigt er, Deutschland schlechtreden zu wollen und Schwarzmalerei zu betreiben. Die wehren sich und starten Versuche, aus der Defensive wieder herauszufinden. Letztendlich bleibt dem Zuhörer aber der Eindruck: Man kann die Apokalypse prophezeien oder Selbstzufriedenheit propagieren. Der politische Weg ist generell der zu behaupten: Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Eigentlich sind wir doch gar nicht so schlecht, aber wir machen auch ein bisschen was Progressives, denn so schlimm wird’s schon nicht werden.
Die Wahrheit liegt aber nicht zwingend in der Mitte. Wenn die Digitalisierung über uns hereinbricht, wie die größten Kritiker auf der Bühne es ankündigen, ist die Lösung der Beharrer – Status quo + X – zu wenig, eklatant zu wenig. Wer hat also Recht? Tatsache ist: Wir wissen es nicht. Vieles ist plausibel, und so viele externe Faktoren werden diese Entwicklung noch bestimmen, dass sie überhaupt nicht vorhersehbar ist. Sich dies einzugestehen, wäre wohl der erste Schritt zur Zukunftsgestaltung. Dann stellt sich nämlich die Frage: Was müssen wir tun, um auf beides vorbereitet zu sein? Dies würde das Entweder/Oder-Dilemma auflösen. Der wichtigste Schritt in Deutschlands Zukunft könnte sein: Sich für Ungewissheiten zu rüsten.

Die Autorin ist Publizistin und lebt in Berlin.