17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Geschichte – ganz anders erzählt

von Wolfgang Brauer

Noch in meiner Schulzeit – das war lange vor 1990 – wurden sie einem verschämt zugesteckt, und man tat ganz cool, um sich mit generöser Haltung zu einem Eintrag herabzulassen. Natürlich war man beleidigt, wenn man wusste, da ließ wieder jemand so ein Ding in der Klasse kursieren und man wurde nicht bedacht… Ja, ich meine die Poesiealben. Meinen ersten Eintrag empfahl mir noch meine Mutter: „Sei wie das Veilchen im Moose / Sittsam, bescheiden und rein. / Und nicht wie die stolze Rose / Die immer bewundert will sein.“ Renate hieß meine damalige Flamme, und ich war zehn, und es war eine Sache der Ehre, die Seite irgendwie veilchenfarben zu gestalten. Später distanzierte ich mich von solchem Kitsch und schrieb bedeutungsvollere Zitate von Mahatma Gandhi, Albert Einstein und Lenin. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich den „Poesies“ noch einmal nachtrauere und ein Büchlein über den grünen Klee lobe, das eine herrliche Blütenlese von Poesiealbensprüchen aus vier Jahrhunderten Berliner Kulturgeschichte der geneigten Leserschaft darbietet.
Nur Mut zur Lektüre! Und niemand möge sich schämen, wenn sie oder er Gefallen an manch Verslein finden sollte. Auch wenn diese Sprüche meist mit ganz, ganz dickem Zuckerguss überzogen scheinen – sie transportieren oft die reale Gefühlslage der Eintragenden. Es sind berührende Geschichten, die sich da erahnen lassen: „Treib nie ein Spiel mit einem treuen Herzen, / das treu sich Dir und rückhaltlos Dir gibt. […]“ Gleich zweimal „treu“ kurz hintereinander! Mein Gott, das ist tatsächlich „Kitsch“ in Reinkultur, aber welch Drama muss dahinter stecken. „Wem nie durch Liebe Leid geschah / Dem ward auch Lieb’ durch Lieb’ nie nah“, schrieb Gottfried von Straßburg. Bei dem ist es hohe Literatur. Aber bei der soeben zitierten Autorin aus dem Jahre 1961 war das Liebesleid mindestens so groß wie bei Gottfrieds Isolde. Aus solchen Einträgen ließe sich eine große Mentalitätsgeschichte entwickeln.
Zusammengetragen haben die Sprüche aus einem Sammlungsbestand von etwa 500 (!) Poesiealben und Stammbüchern des Berliner Stadtmuseums Marlies Ebert und Sebastian Ruff in einem Buch namens „Berliner Poesiealbum“. Von wegen diese Stadt kennt keine Gefühle! Leider fehlt mein „Veilchen im Moose“. Dabei weiß ich genau, dass das noch in den 1970er Jahren durch die Poesiealben meiner Schüler wucherte. Und was hat es mit dem Nachtrauern auf sich? „Mit der Kommerzialisierung des Schreibwarenmarktes und der abnehmenden Bedeutung der Handschriftlichkeit wandelten sich die Bücher [gemeint sind die sogenannten „Freundschaftsbücher“ – W. Br.] zum Teil zu vorgefertigten Fragebögen, die mit den artverwandten Stammbüchern und Poesiealben nur noch wenig gemein haben.“ So die Autoren im Nachwort. Ich meine schon, da wird ein dramatischer  Kulturverfall deutlich – einverstanden, es ist ja nur „Trivialkultur“ –, der sich noch einmal böse rächen wird. Übrigens habe ich dieser Tage einen Spruch weiter verbreitet, der mir zur Zeit besonders gefällt: „Wer durch des Argwohns Brille schaut, / sieht Raupen selbst im Sauerkraut.“ Weshalb gerade den, das sag ich nicht.

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„Des deutschen Mannes Zier“, der Bart, war schon immer von beträchtlichem Symbolwert für das, was man den Geist der Zeiten nennt. Dominierten die Glattrasierten die Männerwelt, muss man von kriegerischen Zeitläuften ausgehen. Zumindest seit der im Ersten Weltkrieg dank deutschem Erfindergeistes notwendig gewordenen Benutzung der Gasmaske. Im Vorfeld der mentalen Vorbereitung dieses Mordens spielte allerdings ein Bart eine Rolle, die „deutsche Barttracht“ – der „Kaiser-Wilhelm-Bart“ mit seinen nach oben gezwirbelten Spitzen. Heinrich Mann hat ihn im „Untertan“ trefflich persifliert. Sicher nicht der Erfinder, aber doch der Vollender dieses martialischen Schnurrbartes hatte seinen Salon im ehemaligen Berliner „Domhotel“ Mittel-/Ecke Friedrichstraße: Hoffriseur François Haby (1861-1938). Der Salon arbeitete in der Mittelstraße 7/8 noch bis Anfang der 1960er Jahre. Die erlauchte Kundschaft – anstelle des Hofstaates ließ sich hier jetzt das Dienstpersonal der umliegenden Regierungsbehörden der DDR frisieren – konnte bis zur Schließung in wahren Kunstwerken platziert werden: 1901 hatte Habys Salon kein Geringerer als Henry van de Velde gestaltet. Komplett: Vom Puderflakon bis zum Frisiersessel sind das alles Bestandteile eines der beeindruckendsten Gesamtkunstwerke der Stilkunst um 1900.
Zwei Arbeitsplätze haben sich erhalten. Sie sind heute als traurig stimmende Reminiszenz an ein einstmals bezauberndes Spezialmuseum, das Berliner Friseurmuseum, nach einer wechselvollen Geschichte im Märkischen Museum aufgebaut. Elisabeth Bartel erzählt die Geschichte Habys und seines Institutes in ihrem Büchlein „Donnerwetter tadellos!“. Diesen Ausruf sollen Majestät höchstderoselbst getätigt haben, nachdem François Haby ihm erstmals seinen „gefährlichen Bart“ (Heinrich Mann) im Spiegel präsentierte. So manch patriotisch gesinnte Gattin stickte des Kaisers Gedankenblitz dem treusorgenden Gatten auf die Bartbinde. Im liebenswerten Bändchen findet sich so manche Abbildung dieser und anderer Utensilien. Leider erwähnt die Autorin die Geschichte der Berliner Damenfrisuren nur am Rande. Die muss wahrscheinlich ein Mann schreiben… Aber auch über die Kosten der Männerfrisuren hält sie sich fairerweise bedeckt.

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Ein weiteres Stück (fast) versunkener Alltagskultur ist ebenfalls mit Berlin verbunden: der legendäre Leierkasten. Lange vor dem Bau der bis heute das Stadtbild prägenden Mietskasernen mit ihren düsteren Hinterhöfen („Gartenhaus“ stand verschämt auf mancher Postanschrift) zogen die „Leiermänner“ durch die Stadt und brachten auf den Märkten ihre belehrenden und schauerlichen Moritaten zu den Klängen der mechanischen Musik an den Mann, die Frau und das Kind. Und natürlich spielten sie die jeweiligen Hits des Tages, die schon damals sehr schnell „auf die Walze“ kamen. Angesichts der Lautstärke, die diese Instrumente erreichten, ist Heinrich Heines Aufstöhnen in den „Briefen aus Berlin“ über die Tyrannis des an jeder Ecke der Stadt erklingenden Weberschen „Jungfernkranzes“ nachvollziehbar. Zu einem Zentrum des Drehorgelbaues entwickelte sich Berlin allerdings erst ab 1877. In jenem Jahr eröffneten die italienischen Orgelbauer Chiaro Frati und Giovanni Battista Bacigalupo ihre erste Fabrik in der Buchholzer Straße 1 im Prenzlauer Berg. Später verlegte man die Firma in die Schönhauser Allee. Neben Frati & Co. gründete Bacigalupo sein eigenes Unternehmen, auch davon gab es Ausgründungen. Im Verlaufe einer komplizierten Firmengeschichte befanden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beiden Seiten des S-Bahnhofes Schönhauser Allee gleich zwei bedeutende Orgelbaufirmen. Die Werkstatt von Louis Bacigalupo in der Schönhauser Allee 79 arbeitete immerhin bis 1967. Der Bedarf war riesig. Um 1920 gab es in Berlin etwa 3.000 „Leiermänner“, wie Anne Franzkowiak in ihrem Buch über mechanische Musikinstrumente mitteilt. Und nicht nur Drehorgeln („Leierkästen“) waren vor der Erfindung der Schelllackplatte schwer in Mode. Für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel gab es die Maschinenmusik. Die kleine Organette von Franz Ehrlich aus Leipzig (mit einer „Notenscheibe“ aus gestanztem Karton) war für den Wochenlohn eines Arbeiters erhältlich. 1897 wurde in New York das Pianola entwickelt. Diese Instrumente wurden auch in Berlin hergestellt und fanden ihren Weg in so manch bürgerliche „gute Stube“. Ihre Klangbreite fasziniert noch heute. Ebenso wie das Orchestrion, sicher die Königin der mechanischen Instrumente. Das Märkische Museum verfügt über eine große Sammlung dieser Klangwunder, die regelmäßig vorgestellt werden.
Anne Franzkowiak stellt ihre Geschichte vor, beschreibt kenntnisreich wie die Dinger funktionieren – und hinterließ bei mir einen Tropfen Wehmut auf der Seele: In Berlin stellt nur noch Axel Stüber in der Biesdorfer Eitelstraße Drehorgeln her und verleiht diese auch. Es ist (bislang) mein Lieblingsbüchlein in der bezaubernden Reihe „Das Museum in der Tasche“. Allesamt kleine editorische Perlen!

Marlies Ebert / Sebastian Ruff: Berliner Poesiealbum. „Wahre Freundschaft nur allein, soll bei uns unsterblich seyn.“, Berlin 2013, 151 Seiten, 9,90 Euro; Elisabeth Bartel: Donnerwetter, tadellos! Kaiser, Hoffriseur und Männerbärte, Berlin 2013, 80 Seiten, 8,90 Euro; Anne Franzkowiak: Mechanische Musikinstrumente. Vom Salon in die Kneipe, Berlin 2011, 78 Seiten (mit CD), 12,90 Euro – alle drei Titel in der Edition Stadtmuseum Berlin.