17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Carlfriedrich Claus’ Denklandschaften

von Klaus Hammer

Ganz zurückgezogen wie ein Eremit lebte er im erzgebirgischen Annaberg, als gelehrter Poet und Künstler, Avantgardist einer eigenständigen intermediären Kunst. Er wusste sich ebenso der Erkenntnisse der Kunst und Literatur wie Naturwissenschaften, der Philosophie wie Psychologie, der Politik wie Geschichte zu bedienen, um ein universales Gedankengebäude ineinandergreifender Künste und Wissenschaften zu errichten. Seine Signale sandte er in Briefen und Sprachblättern, die eine phantasievolle Synthese von Denkprozess, Dichtkunst und Bildfindung darstellen, in die Welt. Er versetzte sich mitten hinein in eine noch weitgehend unbekannte Landschaft, in der sprachliche Vorstellungen erst im Entstehen, Denken erst im Werden begriffen sind.
Das Kupferstichkabinett zeigt aus einer Privatsammlung und aus eigenen Beständen eine Kabinettausstellung der „Denklandschaften“ von Carlfriedrich Claus, die sich in schlüssiger Weise in das Gesamtkonzept der Ständigen Ausstellung „Erweiterte Kampfzone“ der Neuen Nationalgalerie einfügt: 40 Grafiken und Zeichnungen, darunter ausgewählte Stücke aus den Hauptwerken „Aurora“ (1977) und „Aggregat K“ (1988) – aber auch ein dreidimensionales Objekt, Blätter mit zitternden, schwingenden, oft um sich selbst kreisenden Vibrationslinien, den Schwingungen von Claus’ Stimme vergleichbar, die er auf einer Schallplatte „Lautpoesie“ hinterlassen hat. Die Textfäden mutieren zum Vibrations- und Sprachfeld, die skripturalen Partikel fügen sich wie in einem Magnetfeld mit figurativer oder landschaftlicher Struktur zusammen. So wie er schrieb und zeichnete, so wollte Claus, dass der Betrachter seine oft beidseitig gestalteten, transparenten Blätter lese wie in einem aufgeschlagenen Buch. Und so sind sie in der Ausstellung auch angeordnet, man kann die beiden Seiten simultan und nacheinander betrachten, die Lese-Topografie verschiebt sich ständig, visuelles Erlebnis und gedankliche Durchdringung fallen zusammen. Faszinierend wie Claus auf die visuelle Struktur des Themas „flüssige Felder“ zieht, die Gedanken in Tusche „ertränkt“ oder mit Kreide in „trockene Emotionen“ überführt. „Im Kampf zwischen trockenen Kreideoperationen und schwarzen Fluten“ wird das Thema ausgelöscht und in veränderter Gestalt neu geboren.
Aurora, ein zentrales Thema des „mystischen Sozialisten“, wie Claus auch genannt wurde, ist die Göttin der Morgenröte, sie verkörpert im Sinne der Philosophie von Ernst Bloch das „Prinzip Hoffnung“, „die Entdeckung des Noch-Nicht-Bewußten oder der Dämmerung nach vorn“. Aurora steckt im „Imaginieren im Kindsein“, bedeutet „das Aurora-Signal des Russischen Oktober“ von 1917. Claus war der Meinung, „in jedem Menschen ist die Sehnsucht nach einem neuen Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Natur Bestandteil seiner Psyche“. Er prüfte das Vergangene auf Zukunftshaltiges, spürte dem Utopie-Gedanken in den verschiedenen Kulturkreisen nach, schlug von den alten „Quellen“ hebräischer oder chinesischer Weisheit den Bogen zur Renaissance-Philosophie, zu den Ketzern kirchlicher Hierarchien Jakob Böhme und Valentin Weigel. Aurora steht auch für das „prozessuale Verwirklichen neuer Beziehungen zwischen Frau und Mann“ – so der Titel einer Grafik des „Aurora“-Zyklus –, die Freilegung des Utopischen im Sexualtrieb, die Anregung, mit dem eigenen Körper, dem großen Unbekannten, zu experimentieren. So stellte Claus diese elementare Sehnsucht der menschlichen Psyche, des psychosomatischen Systems „Mensch“ zur Diskussion. Das vorletzte Blatt des Zyklus heißt „Aurora letalis“, menschliche Hinfälligkeit, das letzte wendet sich „Gegen Resignation“. Dabei nutzte er unterschiedliche Drucktechniken, den Hoch- und Tiefdruck der Radierplatte, um im Hell-Dunkel-Kontrast das Prinzip Hoffnung zu visualisieren.

Carlfriedrich Claus. 1930-1989. Denklandschaften. Kabinett in der Neuen Nationalgalerie, Berlin, Potsdamer Str. 50, bis 5. Oktober.