17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Verbrecher-Album 1914

von Hellmut von Gerlach

Es war auf dem Gerard-Bankett im Januar 1917. Ich hatte mir gegenüber einen Berliner Professor, neben mir einen unserer bekanntesten Völkerrechtslehrer, der im Auswärtigen Amt aus- und einging. Das Gespräch glitt auf die Frage der Kriegsschuld über. Der Berliner Professor brachte das damals übliche dumme Zeug über den „uns aufgezwungenen“ Krieg usw. vor. Ich erwiderte: „Als Jurist stelle ich nur Behauptungen auf, die ich beweisen kann. Den Dolus der deutschen Regierung vermute ich, aber ich habe keine Beweise dafür. Aber ihre culpa lata, culpa latissima (fahrlässige Schuld) ist erweislich.“ Worauf der Völkerrechtslehrer, übrigens durchaus kein Pazifist, mir mit Nachdruck ins Wort fiel: „Sie können ruhig weiter gehen und von dem Dolus Deutschlands sprechen. Wir haben den Krieg gewollt. Ich weiche nur darin von Ihnen ab, daß ich das nicht missbilligen kann. Der Krieg war als Präventivkrieg für uns nötig.“ Er berichtete dann mit allen möglichen Einzelheiten über die Potsdamer Verhandlungen jenes verhängnisvollen 5. Juli 1914, an dem die damals maßgebenden Männer Deutschlands und Österreich-Ungarns sich über den Sinn – wenn auch nicht über den Wortlaut – des Ultimatums an Serbien einigten und so den Weltkrieg erzeugten.
Inzwischen ist das, was damals nur wenige wußten, der ganzen Welt bekannt geworden. Als durch Lichnowsky und Muehlon die Potsdamer Abmachungen zur Kenntnis breiterer Schichten kamen, da wurde der eine als Trottel, der andere als verrückt abgestempelt. Offizielle Persönlichkeiten und offiziöse Noten nannten die Wahrheit Lüge, wie das seit dem 4. August 1914 oberster Regierungsgrundsatz war. Das deutsche Volk wurde wieder dumm zu machen versucht. Und, regierungsgläubig, wie es nun einmal seit Kriegsausbruch geworden war, ließ es sich in seiner Mehrheit wieder dumm machen. Nur eine kleine Minderheit gesellte sich den paar Leuten zu, die von allem Anfang an weitsichtig und hellhörig gewesen waren.
So blieb es – bis zur Revolution, ja bis über sie hinaus. Noch bis vor wenigen Tagen konnte man sehr gebildete und sonst recht kritische Leute treffen, die zwar inzwischen Republikaner und vielleicht sogar Sozialisten geworden waren, aber immer noch glaubten, wir hätten in dem Krieg zwar Unglück, aber nicht Unrecht gehabt. Bis endlich auch ihnen durch die Eisnerschen Enthüllungen aus den Münchener Archiven die Schleier von den Augen genommen wurden.
Wer den Krieg für ein Verbrechen hält, muss jeden als Verbrecher bezeichnen, der den Krieg hat herbeiführen helfen.
Wer an der Potsdamer Verschwörung und ihrer Ausführung teilgenommen hat, der ist ein Verbrecher am deutschen Volk und an der Menschheit. Ob er bewußt den Krieg herbeigeführt oder bloß mit dem dolus eventualis gehandelt hat: „Ergibt sich daraus der Krieg – nu, wenn schon!“, das kommt auf eins heraus. Gutgläubig war keiner. Das geht schon daraus hervor, dass die Hauptbeteiligten von vornherein nach echter Verbrechermanier sich ein Alibi zu sichern suchten.
Ich hatte mich immer gegen jene Leute gewandt, die, wie die Zimmerwalder, zur Verdunkelung des Tatbestandes beitrugen, indem sie aus der Individualschuld eine Kollektivschuld zu machen versuchten: „Der Kapitalismus ist schuld an dem Weltkriege.“ Nein, verehrte Herren, der Kapitalismus mag überreich an Sünden sein. Aber dass am 4. August 1914 der Weltkrieg ausbrach, das kann dem Kapitalismus nicht aufs Schuldkonto gesetzt werden. Dafür ist verantwortlich ganz ausschließlich eine kleine Clique von Leuten in Berlin, in Wien und in Budapest. Dass der Krieg irgendwann einmal gekommen wäre, selbst wenn er im Sommer 1914 vermieden worden wäre, ist möglich, aber keineswegs sicher. Wir haben den großen Krieg 1887, bei der Annexion Bosniens und der Herzegowina, während der verschiedenen Marokkokrisen, während des russisch-japanischen Krieges und sonst noch manches Mal in drohendster Nähe gesehen. Immer ist er abgewandt worden. Warum hätte er nicht auch weiterhin vermieden werden können, zumal die Internationale der Arbeiter immer stärker wurde, zumal der Pazifismus die westlichen Demokratien immer mehr durchdrang, während er in Deutschland allerdings auf ein kleines Häuflein beschränkt blieb?
Das Unglück für die Menschheit wollte, dass der Mord von Sarajewo in Österreich-Ungarn eine kriegsbereite Stimmung erzeugte. Man traute bei uns dem „schlappen“ Bundesgenossen nicht recht zu, dass er im Ernstfalle wegen eines deutschen Anlasses auch ernst machen würde. Deshalb wurde Sarajewo aufgemünzt. „Nun kann man in Wien nicht kneifen.“ Es han­delte sich ja um eine Habsburger Angelegenheit. Darum stellte man sich in Berlin hinter die Tisza und Conrad von Hötzendorff. Man wollte die Hegemonie Deutschlands. Entweder kroch Serbien zu Kreuze und Russland schluckte alles. Oder Serbien wehrte sich gegen entwürdigende Zumutungen und fand Hilfe. Nun – dann gab es eben einen großen Krieg, in dem man raschestens zu triumphieren erwartete.
Dass man den Krieg wollte, sage ich nicht. Denn ich kann es nicht beweisen. Dass man einen Triumph des Imperialismus wollte, auch auf die Gefahr hin, dass ein paar Millionen Menschen ihr Leben lassen müssten, das ist schon jetzt erwiesen.
Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Jurist bin. Als solcher liebe ich die Feststellung konkreter Tatbestände. Wenn es aber etwas Konkretes gibt, so die Tatsache, dass das Ultimatum an Serbien den Weltkrieg entfesselt hat. Wer den Krieg nicht will, fängt diplomatische Verhandlungen nicht mit einem Ultimatum an. Das tut nur, wer den Krieg will, oder wem es wenigstens nichts ausmacht, ob es einen Krieg gibt. Österreich-Ungarn hat das Ultimatum gestellt. Es hätte es nie getan, wenn es nicht in Potsdam die Ermächtigung dazu bekommen hätte. Wien hat nur das Schwert gezogen, das ihm Berlin in die Hand gedrückt hatte. Beide sind juristisch gleich schuldig. Deutschland als der Stärkere ist moralisch schuldiger. Noch nach dem verbrecherischen Ultimatum gab es die Möglichkeit der Friedenserhaltung. Die von London vorgeschlagene Botschafterkonferenz, das von Petersburg empfohlene Haager Schiedsgericht bauten uns goldene Brücken. Aber der Cäsarenwahn Wilhelms II. hinderte jeden friedlichen Ausgleich. Eine kriegslustige Generals- und Admiralsclique, eine bis zur Gotteserbärmlichkeit schwache und schwankende Regierung, ein Monarch, für den man höchstens den § 51 des Reichsstrafgesetzbuches in Anspruch nehmen könnte – und das Weltunglück war da. Man hat Kurt Eisner einen Vorwurf daraus gemacht, dass er jetzt durch seine Veröffentlichung den Finger auf einen Schandfleck der deutschen Politik gelegt habe. Zu unrecht. Die Lüge hat uns in den Abgrund gezogen. Nur die Wahrheit kann uns wieder aufwärts führen. Die Regierenden des Sommers 1914 sind schuldig am Krieg. Das deutsche Volk würde als mitschuldig erscheinen, wenn es einen Schleier über die Schuld derer zu breiten suchte, von denen es sich am 9. November losgesagt hat. Seine Schuld war nur allzu große Vertrauensseligkeit und allzu große Folgsamkeit. Es kann diese seine Schuld gutmachen und wieder als gereinigtes Glied in die große Völkerfamilie eintreten, wenn es rücksichtslos mit der Vergangenheit bricht und geschlossen ein neues Leben der Freiheit und Völkerversöhnung beginnt. Viele fordern jetzt die Schuldigen vor einen Staatsgerichtshof. Sie hätten ihn reichlich verdient. Aber wo soll man die Grenze der Schuldigen ziehen? Gewiss, wenige haben den Krieg gemacht. Aber wie viele sind im Laufe des Krieges zu Mitschuldigen geworden! Was ich wünsche, das ist, ähnlich, wie es jetzt die Regierung angeregt hat, nach Friedensschluss ein hohes Tribunal im Haag, wo die Neutralen zu Gericht sitzen sollen über die Schuld am Weltkriege. Nicht, um bestimmte Leute zum Tode oder zur Verbannung oder zum Kerker zu verurteilen. Was ist damit getan? Die Millionen werden nicht wieder lebendig. Aber die Schuldfrage soll endgültig unparteiisch festgestellt werden. Ein Dokument soll entstehen zur Warnung für alle kommenden Generationen. Das Weltgericht soll der Weltgeschichte ein Verbrecheralbum einverleiben, das für alle Zeiten die Völker bewahren wird vor einem Rückfall in die Zeit, da ein Mann Millionen in den Tod kommandieren konnte.

Erstveröffentlichung in Die Welt am Montag, Nr. 48, 2. Dezember 1918.
Wilhelm Muehlon, vor dem Krieg Krupp-Manager und 1915/16 für das Auswärtige Amt auf dem Balkan tätig, 
verfasste im August 1917 ein Memorandum über die Julikrise 1914 an die Adresse des Reichstages. Muehlon schildert darin seine Gespräche, die er im Juli 1914 mit Karl Hellferich, Direktor der Deutschen Bank, sowie mit seinem Chef Gustav Krupp von Bohlen und Halbach geführt hat. Aus ihnen geht hervor, dass die Regierung des Deutschen Reichs bereits vor dem Ultimatum an Serbien kriegswillig eingestellt war.
Karl Max Fürst von Lichnowsky war 1912 bis 1914 Botschafter des Deutschen Reiches in London; am 28. Juli 1914 warnte er vor der Illusion, den Krieg „lokalisieren“ zu können. In der noch während des Krieges verfassten und an die Öffentlichkeit geratenen Denkschrift „Meine Londoner Mission 1912 – 1914“ machte er die Herrschenden in Wien und Berlin für den Kriegsausbruch verantwortlich.
Kurt Eisner informierte während der Revolution über die bayerischen Gesandtschaftsberichte, vor allem die des Grafen Lerchenfeld aus Berlin, in der Julikrise 1914.