17. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. August 2014

Nach zehn Jahren

von Paul Levi

Als am 1. August 1914, abends um 6 Uhr, an den Postämtern des Deutschen Reiches das geschah, worauf eine dichtgedrängte zitternde Menschenmenge wartete, als der Mobilmachungsbefehl angeschlagen wurde, da formten sich die Menschenmassen zu langen Zügen, und jenes kannibalische Schauspiel begann, das dann die philosophischen Deutschen als die große Zeit bezeichneten: Mit grölender Stimme, mit tanzenden Schritten, mit funkelnden Augen, mit blutrünstigen Reden zog das Volk der Denker und Dichter durch die Straßen, durch nichts einer Menschenfresserbande ungleich als durch die versessene Einbildung, an der Spitze der Zivilisation zu marschieren. Die große Wandlung begann: Bis dahin bedächtige Bürger bekamen die Moral gewerbsmäßiger Banditen, aus abgeklärten Philosophen wurden wildgewordene Amokläufer, aus treu-biederen Politikern gewohnheitsmäßige Lügner, aus ehrbaren Kaufleuten gerissene Schieber, aus Zuchthäuslern und Betrügern vaterländische Kriegsverdiener: Keine Klassen, keine Parteien mehr, in diesem zähen Morast ward alles gleich, und ihr Kaiser ließ ihnen sagen, nun, da er sie soweit habe, vergesse er allen Groll. Und damit keiner sagen könne, daß diese Kanaille, besoffen von Blut und Branntwein, das angestammte Gemüt verloren habe, wußte der Lokalanzeiger zu vermelden, dieselbe Horde, die eben noch vor dem kaiserlichen Schloß gesungen habe: „Wehe, ach wehe, dir Franzosenbrut“, sei auf besonderen Wunsch dero Kaiserlicher Majestäten vom Schlosse abgezogen, in dem die Kaiserlichen Prinzchen zur Ruhe gebettet waren, und hätte das süße Schlummerliedchen gelispelt: „Die kleinen Prinzen wollen schlafen.“
So ging die Zeit an. Das war in vierundzwanzig Stunden aus dem Deutschland geworden, das nüchtern und friedfertig, fleißig und bedächtig, still und genügsam, lieber hinter dem Ofen als davor, so lange Jahre gesessen hatte. Das war aus dem Deutschland geworden, das in vierzehn Jahren seit der Jahrhundertwende einen wirtschaftlichen Aufschwung genommen hatte ohnegleichen, das Deutschland, das im Begriffe stand, sich wirtschaftlich und kulturell in die erste Reihe der kapitalistischen Staaten zu stellen. Aus diesem Volke ward jenes. Und wer in jenen Tagen nur einigermaßen seine fünf Sinne behielt, wer nur noch imstande war, zu rechnen und zu vergleichen, der konnte damals dem deutschen Volke und seinen Herren die Prophezeiung wiederholen, die das Orakel dem Krösus gegeben: Du wirst ein großes Reich zerstören. Wo die Narren die Wiedergeburt sahen, erblickten wir das Ende.
Es wäre ein halbes Bild, wenn man verschweigen wollte, daß von all den Erschütterungen die Arbeiterschaft verschont geblieben wäre. Es hat sich eines gezeigt: Der sogenannte politische Bildungsprozeß allein hat für die Arbeiterschaft nicht genügt. Es hat nicht genügt, daß die Arbeiterschaft theoretisch das kommende Ereignis vorausgesagt hatte; denn sonst würde die theoretische Kenntnis, die die Arbeiterschaft auf den Kongressen in Stuttgart und Basel errungen, sie vor allen Irrtümern bewahrt haben. Es hat nicht genügt, daß der Arbeiterschaft das Trügerische aller „Schuldbegriffe“ zuvor verdeutlicht worden ist; denn sonst würde es genügt haben, daß schon 1907 Kautsky auf dem Essener Parteitag gesagt hat: „Die deutsche Regierung könnte aber auch eines Tages den deutschen Proletariern weismachen, daß sie die Angegriffenen seien, die französische Regierung könnte das gleiche den Franzosen weismachen, und wir hätten dann einen Krieg, in dem deutsche und französische Proletarier mit der gleichen Begeisterung ihren Regierungen nachgeben und sich gegenseitig morden und die Hälse abschneiden.“
Alle diese theoretische Erkenntnis ist vor dem Sturm der Ereignisse verblaßt. Neue, „bessere“, den Zeitabläufen angepaßte Theorien wurden entdeckt, zurechtgemodelt, aufgeputzt, die Stellung des Proletariats im Staat und gegenüber der Bourgeoisie neu definiert, der Klassenkampf war „eingestellt“, der Burgfrieden proklamiert, das „allen Deutschen Gemeinsame“ aus der Brust des einfachen Mannes wie aus dem Portemonnaie des Reichen ans Licht gezogen, vom Kaiser bis zum Bettelmann die Einheitsfront gebildet und all die Lehre vergessen, die schon Heine in die simplen Worte gekleidet hat: „Und wisset, wenn es den Kaiser juckt, / So müssen die Völker sich kratzen.“
Ach, den Kaiser hat das Fell gejuckt, und ach, die Völker haben sich gekratzt. Haben sich gekratzt bis aufs Blut und mit ihrem Blut die Richtigkeit der alten Lehre besiegelt, daß, solange die menschliche Geschichte geschrieben ward, alle Geschichte ein Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker ist und daß im Krieg der Kampf nicht stillesteht; daß der Krieg die Steigerung ist aller Unterdrückung. Das alles war die Lehre, die theoretisch für das Proletariat zwar gewonnen, aber nicht erworben werden konnte. Erwerben, um sie zu besitzen, kann sie das Proletariat nur durch seine Erfahrung, und der Krieg war der bittersten eine.
Der Krieg hat das geographische und wirtschaftliche Weltbild umgestürzt; er hat das soziale gelassen. Er hat die Bourgeoisie an den Rand des Abgrunds, hat sie in Todesnöte gebracht: Aber was hilft das Leugnen? Der Kapitalismus hat sich rehabilitiert; der heroische Anlauf, den das Proletariat gegen Schluß des Krieges genommen, ist auf halbem Wege steckengeblieben. Die Weltrevolution ist nicht gekommen, die soziale Demokratie ist in keinem Lande heraufgezogen, die Unterdrücker sind geblieben und die Unterdrückten auch. Von Moskau ward in diesen Tagen wieder einmal das Fernrohr über die Welt gedreht und „festgestellt“, daß der Kapitalismus „zerfalle“. Wir glauben nicht an den Zerfall des Kapitalismus von selber. Es ist nicht marxistisch, anzunehmen, daß ein Wirtschaftssystem „zerfalle“: Marx hat uns gelehrt, daß der Kapitalismus sich entwickle zu immer neuen, immer kräftigeren, immer gewaltigeren Formen, und daß diese neuen Formen der Produktion in Widerspruch geraten zu alten sozialen und rechtlichen Gebilden, in einen Widerspruch, den kein anderes Mittel lösen wird, es sei denn die Revolution. Statt nach seinen „Zerfallserscheinungen“ zu spähen, blicken wir auf die Entwicklungsformen des Kapitalismus: Wir sehen, wie der Krieg und der Nachkrieg neue Produktionsquellen erzeugt, neue Länder erschlossen hat, neue, größere kapitalistische Konzentrationen hervorgerufen, neue Gelüste erweckt hat nach fremden Ländern, fernen Rohstoffquellen und wie er, kaum entronnen der letzten Katastrophe, mit naturgesetzlicher Gewalt zutreibt der nächsten, mit naturgesetzlicher Gewalt solange, als nicht die Formen gesprengt sind, die ihm zu eng geworden. Die Formen der Privatwirtschaft sind aber nicht ewiglich. Sie zu schaffen, war Menschenwerk, es wird Menschenwerk sein, sie zu zerstören. Dieselbe Entwicklung, die für den Kapitalismus unentrinnbar ist im Sinne seines Verhängnisses, ist für das Proletariat unausweichlich im Sinne seiner Befreiung.
Was kann eine Rückschau auf zehn Jahre namenlosen Leidens besseres bedeuten als eine Kritik an sich selbst und eine Sammlung von Kraft für kommende Zeiten? Die Rückschau frommt; denn die Stunde kommt, die Lehren der Vergangenheit nutzbar zu machen.

Aus: Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg. 2, Nr. 46, 26. Juli 1924.