von Klaus Hammer
„Spiel auf zweierlei Ebenen“ heißt ein Aquarell des phantastischen Realisten Gerhard Altenbourg aus dem Jahre 1956. Ein Geschöpf fremder Herkunft stellt sich hier als ein Wunderbares, Ungewohntes zwischen die uns vertrauten Dinge, unter unser Licht, in unseren Raum, und es ist gerade die gewöhnliche Wirklichkeit, die seine Seltsamkeit erst deutlich macht. Umgekehrt können die gewöhnlichen Dinge durch die Reizung unseres Vorstellungsvermögens seltsame, der Logik widersprechende Bilderketten heraufführen. Sie können auch bei voller Bewahrung ihrer materiellen Realität durch Vertauschung, Verknüpfung oder Isolierung einen ganz unerwarteten Beziehungsreichtum gewinnen. Der vor 25 Jahren tödlich verunglückte Künstler lässt sich vom Spiel der Formen und Farben tragen, um in deren Verlauf durch raffinierte Technik – mit Pinsel, Feder, Tusche, Wasserfarben, Tee, gewaschen, das heißt auf dem Papier zerfließend, mit Kreide, Gouache, durch Schaben, Aufreißen oder Verreiben – lenkend einzugreifen. Er erfindet Strukturen im Ungeformten, und das Ungeformte selbst richtet sich in bestimmten Strukturen ein. Die menschliche Figur ist selbst eine Struktur und Strukturen unterworfen, die er immer wieder neu erfindet.
Sehr früh ist der 1926 im Thüringer Wald geborene, aber bald in das ostthüringische Altenburg umgezogene Künstler mit seinen visuellen Bildgedichten im Westen bekannt geworden, während er im Osten, misstrauisch von der offiziellen Kulturpolitik beargwöhnt, noch lange Zeit als Geheimtipp unter Kunstkennern galt. Das hatte sich spätestens seit den 1980er Jahren geändert. Zu seinem 60. Geburtstag fanden 1986 in Dresden und Leipzig – und im Jahr darauf auch in der Berliner Nationalgalerie – die ersten Retrospektiven seines Werkes in der DDR statt. Seitdem reißen die Ehrungen und Würdigungen seines Werkes in ganz Deutschland nicht mehr ab.
Die Erwerbung eines bedeutenden Konvoluts von Malerbüchern und Zeichnungen des Künstlers aus der Sammlung von Heidi und Dieter Brusberg – und dazu die Schenkung des bedeutenden Blattes „Die Schaukel“ durch das Sammlerehepaar Ulla und Heiner Pietzsch – hat das Kupferstichkabinett Dresden zum Anlass genommen, seinen jetzigen Bestand an Altenbourg-Zeichnungen zu präsentieren und ein Werkverzeichnis aller in ihrem Besitz befindlichen Arbeiten des Künstlers vorzulegen.
Vermutlich 1944 kam es zum Treffen „Auge in Auge“, bei dem der 17jährige Wehrmachtssoldat Gerhard Ströch, der sich seit 1955 den Künstlernamen Altenbourg zulegte, seinen Gegner tötete – ein traumatisches Erlebnis, das ihn sein ganzes Leben verfolgen sollte. Die Erfahrungen im Krieg haben sich in seinem ersten Künstlerbuch „Dulce et decorum“ niedergeschlagen, dessen Gedichte schon 1947 bis 1955 entstanden sind, während die Zeichnungen erst 1955/56 hinzukamen. Die Bildmotive greifen zwar einzelne Textmotive auf, verfestigen sich aber nicht zu eindeutig verifizierbaren Formen. Die Kompositionen muten wie seismographische Aufzeichnungen an, die unterhalb der sichtbaren Oberfläche die verstörte menschliche Befindlichkeit offenlegen. Die Formkomplexe fügen sich zusammen, nehmen ungefähre Gestalt an, scheinen sich dann wieder aufzulösen, um an anderer Stelle wieder neue Verbindungen einzugehen. Nicht die endgültige Gestaltfindung, sondern der Prozesscharakter hat hier Priorität.
Die Künstlerbücher – allein zwölf befinden sich im Besitz des Kupferstichkabinetts – sind keine Skizzenbücher, denn es handelt sich hier um Zeichnungen auf den gleichen Materialien und in der gleichen Verfahrensweise wie die autonomen Blätter. Die wuchernde Bildsprache entspricht den wuchernden Bildphantasien. Text und Bild gehen eine Symbiose ein, seine Schrift hat Altenbourg dem Duktus des Zeichnens angenähert. Die Buchstaben wirken wie gemalt und die Strukturen der Zeichnungen wie eine Geheimschrift, ist festgestellt worden. An den „Wund-Denkmalen“, einer Folge farbiger Holzschnitte mit Gedichten des Künstlers, hat Altenbourg zwischen 1979 und 1981 gearbeitet. Er schöpfte aus traumhaften Visionen, merkwürdigen Ahnungen und seltsamen Gesichten. Bei anderen Künstlerbüchern fehlt der Text, das Buch „Jauchzer Juchzer Jachzer“ (1977/78) beschränkt sich auf beschreibende Bildtitel. Man kann bei Altenbourgs Malerbüchern von einer „menschlichen Komödie“ sprechen – so lautet auch der Untertitel des Buches „Der Strom dein Zügel“ (1978).
Sprichwörtlich war Altenbourgs Hunger nach Informationen, seine „Bibliotheksbesessenheit“, die ihn auch zu Dada und Bauhaus hinführte, zur „Zusammenstellung von Dingen, die nichts miteinander zu tun haben“. Sein Weg der Abstraktion der durchlebten Realität zu einer nur ihm eigenen poetischen Bildsprache, das Spielen mit Worten und Begriffen, mit ungewöhnlichen Zusammenstellungen kann man an den Malbüchern wie autonomen Zeichnungen ebenso studieren wie die Kompositionsformen, Themen, Motive, Techniken und Medien, denen er sich zugewandt hat. Wenn man die visuellen Bildgedichte Altenbourgs immer wieder von neuem betrachtet, scheinen sie sich tatsächlich zu verfestigen, um gleich darauf wieder zu verfließen und sich bei anderer Gelegenheit und unter anderen Aspekten gänzlich neu zusammenzufügen.
Seine Köpfe, Landschaften und szenischen Darstellungen entwickeln sich in langwierigen Prozessen, sie verflechten, verspinnen, verdichten und ordnen sich, sie weiten sich aus zu vielschichtigen, verschlüsselten, assoziativen „Seelenlandschaften“. Die Köpfe, von Liniengespinsten umwuchert, Phantasie-Porträts, Bildnisse aus Tagträumen, aber wohl auch verkappte Selbstporträts, verweisen auf die Brüchigkeit menschlicher Existenz. Physiognomisches ist mit Landschaftlichem verwoben. Viele Köpfe sind nichts anderes als anthropomorphe Landschaften, in denen sich Untergründiges offenbart. In den durchsichtigen, poetisch verwobenen, klein- und feinteiligen Landschaftsdarstellungen aus kostbarer Farbigkeit ist offensichtlich Thüringen mit den Wiesen, Wäldern und sanft schwingenden Hügeln zu erkennen, aber die zarten, tastenden Linien beziehen auch die Dimension des Unsichtbaren mit ein, innere Strukturen, geologische Schichten. Der Schriftsteller und langjährige Freund Altenbourgs, Erhart Kästner, hat sogar von „der Entdeckung des Unterbewussten der Landschaft“ gesprochen.
Altenbourgs Zeichenkunst weist Bezüge zur informellen wie skripturalen Kunst der Nachkriegsmoderne auf. Inspirierend wirkten auf den Künstler-Poeten vor allem die Arbeiten der Dadaisten: der freie Umgang mit der Sprache und den stilistischen Mitteln als Material. Das kommt auch in den aphoristischen Bild- und Werktiteln zum Ausdruck. Dem beständigen Fortspinnen eines Gedankens, einer Idee, dem Weiter- und Überarbeiten eines Druckmotivs oder einer Zeichnung entspricht das schwebende, nach Aufhebung und Transparenz drängende Moment seiner Arbeiten. Aus Strichgefügen entstehen ganze „Strukturteppiche“.
Wunderbar beherrscht Altenbourg die Formensprache eines doppelbödigen Humors, der leise Ironie, skurrilen Spott, betroffen verstummendes Lachen und intensiv mitleidendes Gefühl, schmerzliches Wirklichkeitserfahren zu vereinen vermag. Er greift zumeist ein banales Sujet aus der Alltagswirklichkeit auf, und indem er den Begriff des Sujets in der Wörtlichkeit seiner eigenen Sprach- und Formgebung darstellt, transformiert er ihn in eine ironische Distanz der Verfremdung, die ebenso die Phantasie anregt als auch das kritische Sehen ermöglicht: „Diskussionskampf“ (1957, beide Aquarell), „Im Fluss der Zeit“ (1962, Kreide/Bleistift), „Ins Ungewisse“ (1965, Kreide), „Versuch einer Beziehung (vielleicht an einem untauglichen Objekt?)“ (1967. Holzschnitt), „Vorüber, hinüber ins Haus des Vergessens“ (1970, Holzschnitt/Linoldruck), „Die Weisheit der Geschichte“ (1973, Feder/Pinsel), „Zwischen zwei Rasenstücken ein Lächeln“ (1976, Kreide), „Diese Pracht des Abgrunds“ (1981) oder „Heil deinem Mute“ (undatiert, beide Aquarell). Die Vielfalt des Lebens suchte Altenbourg als simultanes Gespinst von Formen, Farben, Linien und gestischen Rhythmen durch eine breite Skala von Artikulationsgebärden und Ideenassoziationen zu erschließen. Die gewöhnlichen Dinge können durch die Reizung unseres Vorstellungsvermögens seltsame, der Logik widersprechende Bilderketten heraufführen. Sie können auch bei voller Bewahrung ihrer materiellen Realität durch Vertauschung, Verknüpfung oder Isolierung einen ganz unerwarteten Beziehungsreichtum gewinnen.
terra Altenbourg. Die Welt des Zeichners, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Kupferstich-Kabinett im Dresdener Residenzschloß, bis 29. September, Katalog (mit Bestandsverzeichnis) 48,00 Euro.
Schlagwörter: Gerhard Altenbourg, Klaus Hammer, Kunstsammlungen Dresden