17. Jahrgang | Nummer 18 | 1. September 2014

Alte Säcke

von Heino Bosselmann

Dem Begriff Alterskohorte eignet ein markiger Klang. Der passt. Meine Generation dominiert mittlerweile die Gesellschaft.
Es ist nicht nur der stärkste demographische Jahrgang der 1964 Geborenen, die Baby-Boomer Ost wie West, die das Bild der Öffentlichkeit prägen – es sind darüber hinaus die Fünfundvierzig- bis Sechzig-, ja Siebzigjährigen, die einen Grad an Vitalität verkörpern, wie ihn Deutschland alltagsgeschichtlich von dieser Gruppe noch nie erlebt haben wird. Sicher, wir alle werden in zirka zwanzig Jahren massenhaft zu vergreisen beginnen, so dass es dann etwa so viel Rollatoren wie Fahrräder geben mag. Aber bis dahin wird sehr eindrucksvoll eine Art Feldversuch zweiter Jugend durchgezogen, so hedonistisch wie ästhetisch.
Die meisten meiner Altersgenossen verdienen gut; es ist die Generation der harten Knuffer und Durchzieher, der erprobten Praktiker und der durch Kalten Krieg und Wende durchpolitisiert Geschichtserfahrenen. Deren Elterngeneration legte in der Nachkriegszeit für ihren Nachwuchs Wert auf Bildung, als die noch Inhalte versprach und nicht auf einen politischen Propagandabegriff reduziert war. Facharbeiter zu sein, das galt was, hüben wie drüben. Und wer es drauf hatte, konnte Diplomingenieur werden – ein Titel, unter dem man sich jemanden vorstellte, der technische Problem löste, ohne gleich nach einem Team oder sonstiger Hilfe zu rufen. Was ein Ingenieur ist, weiß man; was ein Bachelor und Master über Praktika und Volontariate hinaus nun genau vermag, aber immer noch nicht so genau.
Selbst als noch der Dritte Weltkrieg teilweise katastrophal dräuend im Bereich des Möglichen lag, schuf meine Generation Wohlstand. In der DDR bescheiden und kollektiv, im Westen reichlich und privat. Man war positioniert und orientiert, daher zwar weniger tolerant, aber urteilsfähiger. Mitunter allzu ausschließlich und ideologisch indoktriniert. Wohl oder übel erwuchsen daraus aber Kraft und Zähigkeit. Man leistete was; man leistete sich was. Man machte sein Ding, war stolz drauf, achtete aber denjenigen, der es ähnlich souverän im Griff hatte.
Bis in alltäglichste Impressionen hinein bestimmen diese Best- und Silver-Ager heutzutage das Land. Sie sind noch immer geradezu beängstigend leistungsfähig. Es wird nicht allein mit der demographischen Statistik zu begründen sein, dass mir beim Joggen, beim Radfahren beim Schwimmen meistens die Älteren begegnen. Die Jungen mögen fit und schick sein, aber es ist dies die Fitness des Spielerischen, weniger jene der Ausdauerleistung. Was seelisch sicher von Gesundheit zeugt: Kein Stress! Chill’ mal, Alter!
Aber kraule ich in der Ostsee die Reihe der Bojen am Ende des Schwimmerbereichs ab, bin ich entweder allein oder entdecke wieder nur graue Köpfe. In der Sächsischen Schweiz, im Harz, in den Alpen, beim Ski, auf den Nordseeinseln, überall multifitte Alte. Ihre Uniform: Jack Wolfskin.
Als Lehrer stellte ich bei Radtouren fest: Ich muss als Fünfziger geduldig auf meine Abiturienten warten. Damit die mitkommen und nicht ausbrennen. Bloß nicht das eigene Tempo fahren, das halten die nicht durch. Solidarisch sein. Zu meiner Abiturzeit war es umgekehrt: Wir gaben höflich unseren Lehrern die Chance, mal eine längere Tour mit uns unterwegs zu sein, weil man ja das Alter zu achten hatte. Für die heutigen Fünfzigjährigen hingegen scheint Marathon beinahe zum Volkssport oder Massenevent zu avancieren. Sprachen die Alten früher permanent von Rheumatismus, vermeiden sie heute sogar das Eingeständnis von Muskelkater. Hatten sie früher Termine in der Osteopathie und Urologie, gehen sie heutzutage immer noch zum Sportarzt und trainieren sich mit zwei neuen Titan-Hüftgelenken wieder hoch.
Selbst die FKK-Strände sind von den Alten okkupiert. Jedenfalls im Osten, wo die mangelnde politische Freiheit offenbar zu ein körperlichen Freizügigkeit führte, die mit spätbürgerlicher Prüderie brach. Was sich an den Nacktstränden lagert, sieht freilich manchmal schon ein wenig braunledrig aus; aber immer noch gesund und fest. Volleyballtauglich. Mehr rotes als weißes Fleisch, nicht immer elastisch, aber sichtlich belastbar. Nicht wenige von denen werden ihren hundertsten Geburtstag lächelnd, klar im Kopf und sogar ohne Rollstuhl erleben können. Mit zahnigem Lächeln einem kühlen Riesling. Mag sein, sogar verschmitzt sexuell aktiv und dabei so leidenschaftsfähig wie in allem anderen. Wird recht teuer für die öffentliche Hand, denkt man, wenn denen die Rente fast ebenso lange zu bezahlen ist wie einst ihr Arbeitslohn.
Und die Jungen? Bleiben – ganz Inklusion – unter sich, leben mit flachen Amplituden, werden in Ganztagsschulen gefördert, die sie vom bösen Leben schützen sollen, und hoffen darauf, „fit gemacht zu werden für den Job“. Weil doch noch jeder bitte bequem dort abzuholen ist, wo er steht. Das macht unter anderem den Unterschied. Als die zähen alten Zausel jung waren, machten sie sich lieber selbst auf den Weg. Und sind immer noch unterwegs.