17. Jahrgang | Sonderausgabe | 28. Juli 2014

Ostpreußische Angst

von Heino Bosselmann

Ostpreußen und Königsberg – verlorenes Land. Man ist kein Revanchist, wenn man diesen Verlust einer alt-ostdeutschen Kulturlandschaft beklagt, immerhin die Geburtsheimat von Kant, Hoffmann, Herder, Forster, von Arno Holz und Käthe Kollwitz. Verlust? Eher eine Kriegsamputation, bei lebendigem Leibe. Katarina Botsky (1880-1945) gehört zu den Verlorenen. Ihr Thema ist beinahe kassandrisch die Angst, nicht die kleine Furcht vor irgendetwas, sondern die große Welt-Angst, aber die ist ja das Thema aller großen Literatur. Sie war immer in der Welt. Und insbesondere im Menschen. Aber mit der Moderne schwingt sie sich kraft forciertem Entfremdungserleben zur fortdauernden Herrschaft auf. Die Menschen wurden Material und die Industrien Armeen.
Aber: „Dünkten sich die einen immer wichtiger / als die andern – wie heute auch; / schleppten ihre großen Träume / durch die Welt – wie wir. / Und waren alle arme Schächer, / Schafe auf dunklen Weiden, / und alle gleich in ihrer bangsten Frage / – wie heute auch – / mit der sie am Tor / der Geheimnisse standen, / flüsternd, schluchzend, schreiend: / ob – / ob sie nur einmal da wären in der Welt / und niemals wieder.“
Arme Schächer also, Schafe auf dunklen Weiden… – Diese Verse bilden das Ende des Prologgedichts, das dem Novellenband Katarina Botskys vorangestellt ist.
Liest man die überragend kraftvolle, unerwartet eindringliche Prosa der bis vor kurzem vergessenen Königsbergerin, so ist es, als stünde man vor einem lange vergessenen Mappenschrank, der unbekannte Graphiken von Alfred Kubin oder A. Paul Weber enthält. Blätter düsterer Motivik also, die von der Nachtseite des Menschen erzählen – und so vom angstdurchwirkten Dunkel, das er in die Welt getragen hat. Schublade um Schublade moderne Caprichos, bedrückende Phantasien, die aber gerade darum so verstörend sind, weil sie ohne Phantasmagorien auskommen. Selbst wo sie sich in finstere Träume und Gesichte verlieren, reicht ihnen die menschliche Komödie des nackten Daseins, die immer doch schon Tragödie ist. Monster, Mumien, Mutationen braucht die Autorin nicht, um ihre Szenen zu bevölkern. Ihr genügen der Mensch und die von ihm geschundenen Tiere.
Obgleich Katarina Botsky nicht zu den bekannten literarischen Kreisen ihrer Gegenwart gehörte, sondern ihre Texte gewissermaßen weit draußen im baltischen Abseits des alten Königsberg schrieb – dieser preußischen Krönungsstadt, die da selbst schon in ihrem letzten historischen Kapitel stand –, darf man sie wohl zu den Expressionisten zählen, also zu jener Generation, die, noch in der trügerischen Rest-Idylle der sogenannten guten alten Zeit geboren und aufgewachsen, die drohenden Ahnungen des neuen Jahrhunderts nicht nur empfand, sondern dessen erste furchtbare Akte bereits miterlebte – das Zerbrechen der so lange fest gefügt scheinenden Ordnung, den ersten, damals noch nicht nummerierten Krieg, den man also noch für den Krieg halten durfte, der aber wiederum nur die Ouvertüre zum noch größeren Inferno darstellte. Dazwischen die beginnende Herrschaft der Ideologien – beides, politische Heilslehre wie das große Schlachten, nicht zuletzt Ausdrucksformen und Folgen eben der Angst.
Vor seinem wie ein Menetekel erscheinenden Wahn war bereits Friedrich Nietzsche, eine der „Portalfiguren der Moderne“, mindestens geistig und mit der verzweifelten Aufrüstung zum vermeintlichen Übermenschen in diese Zeit aufgebrochen, vorschnell gegenüber den noch postromantisch Verharrenden und allzu klarsichtig. Neben seiner hochtransformierten Spätphilosophie, an der er selbst zerbrach, kündet von der modernen Angst sein eindrucksvolles Gedicht „Vereinsamt“ (1884), dessen Grundton zu Katarina Botsky Literatur passt: „Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein, – / Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!“
Was wir bei Katarina Botsky lesen, spielt sämtlich unter diesen kalten Himmeln. In der „kalten Heimat“ Ostpreußen, am Kalten Haff, dem Gebiet des ehemaligen Deutschordensstaates. Passenderweise hat Martin A. Völker den Titel der Novelle „Krähendämmerung“ für den Band gewählt, ausdrucksvoll illustriert von Antje Klara Brücker. Es geht in dieser Titel-Geschichte um eine Krähenkolonie auf den hohen Bäumen eines Friedhofs. Die Tiere überleben dort unter härtesten Entbehrungen einen eiszeitlich anmutenden „Fimbulwinter“, noch geatzt von einer mitleidvoll-tierlieben Frau, nur um dann im Frühling der widerlichen Abschlachtung durch die Dörfler zum Opfer zu fallen, die das lebensfroh raue Krächzen der Vögel allzu sehr stört. Die Feuerwehr rückt uniformiert an und macht der Population den Garaus. Frevel gegen die Mitgeschöpfe, alsbald wiederholt als Frevel, als Pogrome an den Mitmenschen! Nun sollte man solche Bilder nicht überdeuten, aber sie verweisen schon darauf vor, dass dieses Jahrhundert, mit Nietzsches Worten ausgedrückt, „nirgends halt macht“, auch nicht vor den bislang unvorstellbaren Verbrechen einer „Kulturnation“.
Ostpreußen selbst wird den Winter 1944/45 nicht bis ins Frühjahr überstehen und die Autorin Botsky mit dem Einmarsch der Roten Armee in Königsberg umkommen.
Schon einmal gab es dort einen Untergang, jenes des Staates der Ordensritter, von Katarina Botsky thematisiert in der Novelle „Träumer von Plauen“. Erzählt wird von dem nach perfiden Intrigen in der Haft verdämmernden 27. Hochmeister des Ordens, Heinrich von Plauen, als Verteidiger der bedrängten Marienburg nach der Schlacht bei Tannenberg Personifizierung einer heroischen Ära, die sich jedoch bereits überlebt hatte – und langsam verging wie der melancholische, in Dichtungen träumende Ritter, nur noch ein Herbstschatten seiner selbst.
So wie in diesen Geschichten alles einem endzeitlichen Vergängnis anheimfällt: Ein düster, staubiges Papiergeschäft geht in Konkurs, ein Dorfpfarrer, der eigentlich noch seine Konfirmanden segnen möchte, stirbt, eingehüllt in herrliche Träume vom neuen Jerusalem, das nur aus dem Wahn seiner Agonie ersteht, und eine alternde Schneiderin verliert ihre kümmerliche Existenz an die ihren Siegeszug antretende Billigkonkurrenz der Kaufhaus-Konfektionsware. Die Gesichter von Schaufensterpuppen scheinen sie hämisch anzugrinsen: „Jetzt schossen, höhnisch, die lackierten Zungen heraus. Taumelnd ging sie an lauter fratzenschneidenden Wachsputten vorüber.“ Und erkennt in einem alten traurigen Pferd, das gesenkten Kopfes dem Rossschlächter entgegengeht, ihr eigenes Schicksal.
Anderen Geschichten wiederum eignet ein düster-visionärer Zug. Sie erinnern in ihrer Gleichnishaftigkeit durchaus an Kafkas Parabeln und in ihrer Beklemmung erzeugenden Stimmung an Robert Walser, hinsichtlich der Sprachkraft und hochliterarischen Beschreibungspotenz gar an Edgar Allen Poe oder Hermann Melville. Da ist zunächst der Krieg, der den ostpreußischen Rand des Reiches schon oft heimsuchte, jetzt aber einbricht wie eine nicht mehr aufzuhaltende Invasion eurasischer Horden. Unter das Feuer gerät etwa eine Irrenanstalt, aus der heraus ein Mädchen aufbricht, ihren Mitpatienten Brot zu verschaffen – eine biblische anmutende Retterin, „Ruth“, die, wie viele Protagonisten Botskys, das Heil sucht, aber nur das Unheil der erdigen Schützengräben und schließlich den Tod findet.
Die Erzählung „Krieg“ selbst schildert surrealistisch die Einnahme einer Stadt durch die Russen im Ersten Weltkrieg und scheint, wiederum visionär, das endgültige Ende des Landes im Zweiten Weltkrieg und das damit verbundene Flüchtlingsdrama vorwegzunehmen: „Wie einst die Kinder Israel zogen die unglücklichen Ostpreußen mit ihren Kindern und ihren Viehherden in die Fremde. Doch viele, viele hatten nur winzige Bündel in den Händen; die einzige Habe, mit der sie entkommen waren. Eine riesengroße Frau mit rotem Kopftuch trug einen Kindersarg unter ihrem Arm. Der Sarg umschloß ihr kostbarstes Gut und war alles, was sie vor dem Feinde gerettet hatte.“
Ganz ähnlich die kurze Geschichte „Nachtgesichter“. Das plötzlich in den Straßen einer Stadt angeschlagenes Plakat trifft die Einwohner wie ein Vollstreckungsbeschluss: „Es ist entschieden. Wir kommen zu Polen.“ Und man denkt an Kafkas „Ein altes Blatt“, wenn man liest, in welch unheimliche Gesichte der Heimatverlust die Sorge die Erzählerin treibt: Sie gerät in einen Garten hinein und findet dort niedrige Kolonnaden, unter denen unheimliche Gäste sitzen: „Worin das Frappierende bestand, sah ich, als einer von ihnen den Kopf hob und seine Augen nach trüb brennenden Lampe drehte. Es waren Schlitzaugen. Es waren Gelbe, die da saßen. Ich sah meinen Vater an. Er sagte: ‚Wir flohen vor der Gegenwart und wir finden – die Zukunft.’“ – Und die Zukunft ist für Botsky immer ein Alptraum. Ebenso wie in „Putin, die Traumstadt“, durch die die Protagonistin in einem höllischen Stress gejagt wird, um einen „Eilfrachtbrief“ zu bekommen. Was sie erfährt, ist wieder von der Schwere einer finsteren Prophezeiung. Sie begegnet zwei längst gestorbenen Schulgefährtinnen. „Ich zeigte auf die Leute im Kaftan und meinte, daß ich noch nie so viele ihres Glaubens irgendwo gesehen hätte, nicht einmal in Berlin. ‚Wie sieht es bei euch aus?’, fragte ich neugierig. Nach einigem Zögern erhob eine der beiden ihre Hand und machte eine weite, malende Geste. ‚Torbogen und Synagogen’, flüsterte sie, ‚Torbogen und Synagogen.’ ‚Und der liebe Gott?’, fragte ich gleich. ‚Auch jüdisch’, raunte sie mir zu.“ – Sicher überinterpretierend vermessen, in diesem Zusammenhang mit dem Reich der Toten an den Holocaust zu denken, aber dem Nachgeborenen drängt sich dieser Bezug doch unweigerlich auf.
Muten manche Geschichten an wie in „Callots Manier“ gemalt, wirken andere wie als skurrile Karikaturen gezeichnet: „Die Untauglichen“ etwa, zwei für den Krieg Ausgemusterte, Christ und Jude, suchen patriotisch nach Bewährung an der Heimatfront und werden schließlich zum Ausmisten riesiger Reserve-Kuhställe abgestellt und geraten so in eine Materialschlacht aus Dung, die den einen verschlingt, während der andere auf seiner Flöte den Gänsen etwas vorspielt. – Ferner „Die beiden reichen Armen“: Eine alte Muhme und deren Dienstmädchen entbehren nahezu alles Lebensnotwendigen, hungern still und üben sich bescheiden im Glauben an göttlichen Beistand, der in seiner verzweifelt fatalistischen Hoffnung etwas unfreiwillig komisch Absurdes hat. Schon das Schnüffeln nach dem im Schrank des toten Gatten noch wahrnehmbaren Schnapsaroma gilt der Alten als verwerfliche „Jenußsucht“, gegen die ein Extragebet zu sprechen wäre.
Botskys Novellen berücken den Leser mit einer Genauigkeit und Einfühlsamkeit in Sprache, Klang und Rhythmus, der alles Manierierte fehlt, wie es etwa, mit Verlaub, der Zeitgenossin Ricarda Huch doch eigen war. Den gleichfalls aus Königsberg stammenden, ebenfalls düsteren E. T. A. Hoffmann wird Katarina Botsky gelesen und geschätzt haben, aber seine Erzählungen wirken den ihren gegenüber operettenhaft fabuliert. Finster auch sie, gleichwohl nun mal romantisch. Spuk und Gespenster hat die Botsky nicht nötig. Sie literarisiert die an Welt und Leben unheilbar Kranken selbst.
Alle Novellen wirken seltsam kompakt. Nirgendwo wird dahererzählt, stattdessen gelingt der Autorin literarisch eine atmosphärische Verdichtung, die den Leser sofort mitten in das beschriebene Interieur wie ins dargestellten fremden Schicksal stellt. Nur ein Blick auf die Szene reicht, und schon wird man deren Teil: „Als es anfing dunkel zu werden, begann der kleine Lehrling zu seiner Zerstreuung auf Unfug zu sinnen; denn er hatte zu wenig zu tun in dem muffigen, von Kunden gemiedenen alten Papiergeschäft, in dem sie dessen ungeachtet zu dreien hinter dem zu hohen Notsarg-ähnlichen Ladentisch standen: der (ältliche) Herr, die (ältliche) Verkäuferin und er, der Lehrling, und wo sie hübsch Zeit hatten, dem Schattenspiel ihrer Nasen an der leeren grauen Seitenwand zuzusehen. Die Tage im Laden ähnelten sich wie totgeborene Zwillinge, ob es da Sommer oder Winter war, ob Frühling oder Herbst. Leere und Schweigen regierten schon lange in dem veralteten Geschäft.“
Die Personen wiederum werden mit wenigen Strichen so plastisch umrissen, dass man sie physiognomisch wie gestisch genau vor sich sieht: „Die Frau Rendant lehnte mit gefalteten Händen in der Sofaecke und überdachte den Tag. Der Schatten ihrer Haube zeichnete den Schädel einer Kuh auf die Wand, und die Hörner des Schädels nickten, wenn der Kopf sich bewegte. Auf den gelben Kattungardinen des enormen Himmelbetts im Winkel ließ das Mondlicht geisterhaft die Rosen erblühen.“ Um den noch einzig verbliebenen Irrenarzt in der unter Beschuss geratenen Anstalt vorzustellen, reicht Botsky die Beschreibung seines Tics: „Er war ein älterer Mann mit etwas Veitstanz in den Schultern. Immer mit Irren zusammen sein, wirkt auf irgendeine Art ansteckend. seine Schultern hatten sich an den Verrenkungen seiner Patienten angesteckt.“
Die Wiederentdeckung dieser großen Autorin ist dem Literaturwissenschaftler Martin A. Völker zu danken, der schon den Vorgängerband „In den Finsternissen“ herausgeben hatte. Ein angefügter Anhang erläutert die Bibliographie der Texte und wartet mit einem immens kenntnisreichen Nachwort auf, das Katarina Botsky geistes- und literaturgeschichtlich in die übergreifenden Zusammenhänge ihres Wirkens stellt. Erschienen ist das Bändchen im Coesfelder Elsinor Verlag, der sich eigens der Neuentdeckung des unverdient Vergessenen widmet.

Katarina Botsky: Krähendämmerung, Elsinor Verlag, Coesfeld 2014, 152 Seiten, 12,90 Euro.