17. Jahrgang | Sonderausgabe | 28. Juli 2014

„Viel zu stolz, um nicht mutig zu sein“

von Ulrich Kaufmann

Als ich im Herbst 1970 meine Kommilitonin Katrin Lemke das erste Mal in ihrer Jenaer Wohnung Am Rähmen 21 besuchte, fielen mir mehrere großformatige, in Brauntönen gehaltene Originalgemälde auf. Geschaffen hatte diese Bilder in eben jenem Hause ihr Schwiegervater, der 1957 verstorbene Nervenarzt und Hobbymaler Rudolf Lemke, den sie niemals kennen lernen konnte. Eines dieser Gemälde zeigt die Dichterin Ricarda Huch (1864-1947). Die spannende Entstehungsgeschichte dieses Altersporträts erzählte die Autorin für den Band „Dichterwege nach Jena“ (2011). Diesen Text könnte man (mit Goethe) das „Urei“ der vorliegenden, spannend zu lesenden Biografie nennen.
Das Buch beginnt ungewöhnlich, da die Verfasserin zunächst die Züricher Studienjahre Ricarda Huchs (1887-1891) in den Blick nimmt: Sie studierte dort als eine der ersten Frauen (übrigens mit glänzenden Ergebnissen) Philologie und Geschichte. In den historischen Seminaren saß auch Rosa Luxemburg, die sich später über Ricarda Huch anerkennend, aber durchaus mit kritischer Distanz äußern sollte. Erst nach dieser Schweizer Episode schaut die Biografin auf die familiären Anfänge ihrer Protagonistn zurück, die sie mitunter etwas undistanziert nur „Ricarda“ nennt.
Ins Zentrum der Monografie, die zum 150. Geburtstag der Autorin vorgelegt wird, stellt Katrin Lemke das Leben und hier vor allem die aufregenden und gleichermaßen verwirrenden Liebesabenteuer der Ricarda Huch. Die Verfasserin erzählt diese Episoden feinfühlig und behutsam, ohne den moralischen Zeigefinger oder heute übliche Sensationshascherei. Schon mit 19 Jahren, noch vor ihrem Studium, hatte Ricarda Huch sich in ihren Vetter und Schwager Richard Huch, den Ehemann ihrer älteren Schwester Lilly, verliebt. Ihr Schwager konnte und wollte sich lange nicht von seiner Frau sowie von seinen drei Kindern trennen. In ihrem Romanerstling „Erinnerungen von Ludolf Ursleu, dem Jüngeren“ (1893) und in vielen lyrischen Texten hat die Dichterin die über Jahre unerfüllt gebliebene Liebe idealisierend gestaltet.
1888 heiratete die Schriftstellerin den italienischen Zahnarzt Ceconi, der in München auch der Arzt für die Kinder von Katja und Thomas Mann war. Ein Jahr später wurde die Tochter Marietta geboren. Im Jahre 1905 war Richard Huch plötzlich „frei“. Beide Huch-Schwestern ließen sich scheiden. Ricarda trennte sich von dem treusorgenden und liebenswerten Vater ihrer gemeinsamen Tochter und heiratete 1907 ihre Jugendliebe Richard Huch. Dieser kam nicht damit klar, dass Marietta ein inniges Verhältnis zu ihrem leiblichen Vater hatte. Schon nach drei Jahren wurde die zweite Ehe der Huchs geschieden. Jahre später kehrte die Dichterin, gemeinsam mit ihrem einzigen Kind, zu ihrem ersten Gatten zurück, der die Hoffnung auf die Wiederkehr seiner „Katze“ niemals aufgegeben hatte. Sie lebten abwechselnd in München und Italien zusammen.
Katrin Lemkes Biografie hält, was sie im Untertitel „Leben und Werk“ verspricht Zunächst werden die Huch-Texte in die Darstellung einbezogen, die autobiografische Aspekte berühren, etwa auch jene, die sich auf Jena oder rückschauend auf die frühen Jahre in Zürich beziehen. Ricarda Huch hat in ihrem langen Leben eine Vielzahl von Romanen, Erzählungen, Essays, Aufsätzen, Gedichten und vor allem religiöse und historische Abhandlungen geschaffen, die in einer so knappen Biografie nicht alle analytisch vorgestellt werden können. Vor allem die mehrbändige Darstellung zur deutschen Romantik, die Abhandlung über „Luthers Glauben“, der Essay über Gottfried-Keller, dem die Huch als alten Herrn, „klein und gebückt“ in Zürich noch begegnen konnte sowie die drei Bände „Lebensbilder deutscher Städte“ finden in der Monografie eine genauere Betrachtung. Die „Städtebilder“ schrieb die Kunsthistorikerin Ricarda Huch zu einer Zeit, als Deutschlands Städte (in Folge des Zweiten Weltkrieges) noch nicht in Schutt und Asche lagen.
Neben vielen Vorzügen des Bandes fallen reparable Kleinigkeiten kaum ins Gewicht: Die Zitierweise ist nicht einheitlich und mancher Satz im ersten Drittel der Biografie ist mit Informationen überfrachtet. Die Auszeichnungen, welche die „erste Frau Deutschlands“ (in der Bewertung Thomas Manns) erhielt, werden gleich doppelt aufgeführt.
Das Buch ist vorzüglich aufgemacht und ausgestattet mit einer Vielzahl von zum Teil unbekannten Dokumenten und Fotos. Bereichert wird der Band auf den Innenklappen durch einen literarischen Spaziergang durch Jena, wo die Dichterin vor allem die Jahre der inneren Emigration verbrachte. Eine Handvoll Jenaer Erde hatte Ricarda Huch im Gepäck auf ihrer letzten Reise nach Hessen, wo sie am 17. November 1947 starb. Ihr Kollege Alfred Döblin notierte in seinem Nachruf: „Mut war ihr selbstverständlich. Sie war, wie es sich für Naturen ihre Art gehört, viel zu stolz, um nicht mutig zu sein.“

Katrin Lemke: Die Summe des Ganzen – Ricarda Huch. Leben und Werk, Weimarer Verlagsgesellschaft, Weimar 2014, 161 Seiten, 14,90 Euro.