17. Jahrgang | Nummer 12 | 9. Juni 2014

Notizen eines Vergessenen

von Mathias Iven

Bedurfte es wirklich erst des Anstoßes durch die Leipziger Buchmesse 2014? Immerhin sorgte der diesjährige Länderschwerpunkt Schweiz dafür, dass uns von den Verlagen manch lange entbehrte Nachauflage präsentiert wurde. Und so fanden denn auch gleich fünf Bücher von Ludwig Hohl den Weg zurück in die deutschen Buchhandlungen.
Hohl, der vor 110 Jahren im schweizerischen Netstal im Kanton Glarus geboren wurde, war Zeit seines Lebens eine Randfigur des Literaturbetriebes. „Verehrt, verpönt und kaum gelesen“, so brachten es die Herausgeber von Quarto, der Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs, auf den Punkt. Schmal war sein Lebenswerk, die Auflagen gering. Als er im November 1980 in Genf starb, wo er über vier Jahrzehnte hinweg in ärmlichen Verhältnissen in einer Kellerwohnung mehr gehaust als gelebt hatte, wurde das kaum zur Kenntnis genommen.
Neben der von ihm über fünfzig Jahre hinweg mehrfach umgearbeiteten, erst 1975 veröffentlichten Erzählung Bergfahrt sind es vor allem Hohls Notizen, die einer neuerlichen Lektüre anzuempfehlen sind. Der Großteil dieses umfangreichen, in zwölf Teile gegliederten Buches wurde zwischen 1934 und 1936 im holländischen Exil geschrieben. Jahre später war es der Zürcher Artemis-Verlag, der die Notizen in sein Programm aufnahm und sie – ganz entgegen Hohls Wunsch – 1944 und 1954 in zwei Bänden publizierte. Erst 1981 wurden sie schließlich in einer einbändigen, noch von Hohl eingeleiteten und zum Druck vorbereiteten Fassung vom Suhrkamp Verlag herausgegeben. In einer kurz danach veröffentlichten Besprechung der ZEIT war über die, wie Hohl es selbst beschrieb, „in größter geistiger Einöde“ entstandenen Notizen zu lesen: sie „fangen nicht an, hören nicht auf, sind kein Buch zum Durchlesen. Man lebt damit oder läßt es […]“. Ein Urteil, das seine Gültigkeit nicht verloren hat.
Ein Blick ins Buch wirft zunächst die Frage nach der Form auf. Was hat der Leser hier vor sich: Notate oder Aphorismen? Letzteres, so ist es der Einleitung zu entnehmen, sicherlich nicht. Also dann doch eher Fragmente? Ludwig Hohl dazu: „ein Fragment ist immer unser Tun, unser aller Tun war es; ein winzig kleines Stück Tun am Unvergänglichen; ein winzig kleines Stück Dienst am unvergänglich Seienden“. Das erinnert an Novalis und das „Symphilosophieren“ der Romantiker: das Bruchstückhafte lässt den Blick auf ein Ganzes zu, doch nicht, so Hohl, „bevor man seine Einheitlichkeit erfaßt hat“.
Lediglich fünf Bücher werden in den Notizen als diejenigen empfohlen, „die man immer um sich haben sollte“: Spinozas Ethik, Goethes Faust sowie dessen „Sprüche und Divan“, die Essays von Montaigne und schließlich Lichtenbergs „kleine Stücke“. Hohls Aufzeichnungen verraten aber auch eine geistige Nähe zu Nietzsche oder Wittgenstein: „Schweigen kann seinen Sinn nur durch das es umgebende Reden haben; es ist wie ein Interpunktionszeichen, es kann nicht allein stehen.“ Selbst wenn Hohl den Tractatus nicht kannte – Wittgenstein hätte ihm sicherlich zugestimmt.
Versuchen wir zum Schluss noch einen kurzen Einstieg in Hohls Gedankenwelt und schauen wir uns seine Überlegungen zur Frage nach dem „Höchsten“ an. Ein immer wiederkehrendes Thema war für ihn in diesem Zusammenhang die menschliche Tätigkeit, die „richtige Arbeit“ als Grundlage unseres Erkenntnisprozesses. „Man kann“, meinte Hohl, „nicht etwas voll erkennen und nicht tun. Das Erkennen geht unmerklich in die Tat über.“ Arbeit ist somit nichts weiter als „die Realisierung des Erkennens“. Oder anders gewendet: „Die Hoffnung des Handelns ist das Erkennen.“ Doch was ist Erkenntnis? Für Hohl war es „die von Gedanken gezeugte, mit Gedanken gepaarte oder Gedanken gewordene Unternehmung“. Und er fügte hinzu: „Ja, Erkenntnisse sind ein Zustand!“ Fassen wir das Gesagte zusammen, haben wir Hohls Fazit: „Aller Übel Abgrund ist das fehlende Erkennen.“ –
Ein schwieriger Autor, ein schwieriges Buch? Mitnichten! Ludwig Hohls Notizen stehen da als ein Denkgebäude, von dem man sich – ganz im Sinne des Untertitels – nicht voreilig abwenden sollte. Erst recht wird die wiederholte Lektüre dem Leser immer wieder Neues erschließen. Denn, wie stellte schon Hohl fest: „Kein wirklicher Leser hat ein wirkliches Kunstwerk je ausgelesen.“

Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 832 Seiten, 24,95 Euro.