17. Jahrgang | Nummer 12 | 9. Juni 2014

Abend im Göttergarten

von Renate Hoffmann

Weil es schon später Tag ist, beschleunige ich den Wanderschritt, um von Heidenau, im lieben Lande Sachsen, auf die Höhe des linksufrigen Elbhanges zu gelangen. Weiter Blick in die Runde. Hinunter ins Flusstal, hinüber zu den Pillnitzer Weinbergen. Kaum ein Lüftchen weht. Am Himmel fährt langsam, langsam ein gelber Heißluftballon.
Das Portal, majestätisch und filigran zugleich, empfängt die Gäste zum Lustwandeln, Staunen, Sinneschmeicheln und zur Erbauung im Barockgarten von Großsedlitz. Die Dame an der Kasse mahnt: „Sie müssen sich beeilen, wir schließen bald!“ Wie soll ich mich hier beeilen bei einer „Stillen Musik“, den „Himmelsalleen“, einem „Steinernen Meer“; über 130 Orangenbäumen, mehr als 300 prächtigen Kübelpflanzen, Wasserspielen, Blumenrabatten, die mit den Farben des Regenbogens um die Wette blühen; Sichtachsen, die eine Schau in nahe und ferne Landschaften gewähren, und mit einer weit offenen grünen Geometrie? – Großzügige, von Glanz, Reichtum und unstillbarem Repräsentationsdrang sprechende Bauwerke; Treppen, auf denen man schreitet, geschwungene Balustraden, und eine illustre Versammlung der Götter. – Der Vergleich mit Versailles liegt nahe.
Es begann mit dem Rittergut Sedlitz, das lichterloh brannte. Im Jahre 1719 kaufte Reichsgraf August Christoph von Wackerbarth (1662-1734) Brandstätte und die dazugehörigen Dörfer. Als gebildeter, weitgereister, mit der Diplomatie vertrauter Mann, galt er als geschätzte Persönlichkeit am Hof August des Starken, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, und er versah dort wichtige Ämter. Ihm unterstanden auch die sächsischen Hofarchitekten, zu denen berühmte Namen zählten: Matthäus Daniel Pöppelmann, Zacharias Longuelune, Johann Christoph Knöffel. Früher oder später hatten sie ihre Meriten an der Gestaltung des Wackerbarthschen Besitzes. – Innerhalb kürzester Zeit (bis 1721) stehen Schloss und „Obere Orangerie“. Der Garten wird angelegt.
Der König wirft ein Auge darauf und jagt seinem Höfling die Residenz im Grünen ab. Vertraglich, versteht sich (nach gewisser Verzögerung). Nun beginnen – dem Pracht- und Machtstreben Augusts angemessen, Abrissarbeiten, Um-, Aus- und Neubauten, der schöne Garten erfährt Erweiterung. Als nunmehriger Ort großer Lustbarkeiten öffnet das spätbarocke Kunstwerk am Namenstag des Königs, dem 3. August 1727, erstmals seine Pforten für das „Fest des Polnischen Weißen Adlerordens“; dem sächsischen Herrscher lag viel an diesem Ereignis. Fortan sollte es noch elf Jahre lang in der außergewöhnlichen Umgebung gefeiert werden. – Im Laufe der Zeiten gingen Kriegszüge mit verheerenden Folgen über die grandiose Anlage hinweg, Vernachlässigung hinterließ ihre Spuren. Doch das Wiedererstehen trug stets den Sieg davon.
Entlang der „Großen Promenade“ aus Linden, die der Schnitt zähmt, breite Treppenläufe auf und ab; bedenkenloses Überqueren des Boulingrins (abgesenkte Rasenfläche) und mit jedem Schritt die Weiträumigkeit der Gartenlust erfassend. Niedrige Buchssäume und hohe Buchenhecken, akkurat in Form gebracht. Die Abendsonne bemisst nach ihnen ihren Schattenwurf. Und allüberall tummeln sich die Götter, als wäre der Olymp auf einem Wochenendausflug. Versteckt in Nischen und Winkeln, an Alleenkreuzungen, posierend im Rondell – wie Herkules, der einen der gestohlenen goldenen Äpfel der Hesperiden (hier triste aus Sandstein gefertigt) listig verbirgt. Sie treten auch zu Paaren auf oder gar in Gruppen, zeigen ihre Gefühle und erzählen ihre Geschichten.
Am Göttervater Zeus mogle ich mich vorbei, wer weiß schon, ob er in guter Stimmung ist oder Blitze schleudern wird? Juno (Hera) steht entfernt von ihm, verständlich, die beiden hatten ohnehin ihre Schwierigkeiten miteinander. Am unteren Ende der „Großen Waldkaskade“, von zwei Rundbassins umplätschert, begegne ich acht klassischen Paaren der antiken Mythologie. Als ihre Schöpfer gelten, soweit bekannt, die Hofbildhauer Johann Benjamin Thomae, Johann Christian Kirchner und Jacob Lehmann. Sie hinterließen lebendige plastische Meisterwerke. Man sollte Ovids Metamorphosen zur Hand haben, denn aus seinen Gesängen sind sie hierher entwichen. Die Liebe treibt sie um: Vergebliches Werben, verlorene Hoffnung, zärtlicher Trost und erfülltes Begehren.
Echo bedrängt Narcissus, den in sich selbst Verliebten. Ihr Gewand weht vom eiligen Lauf. Er wendet sich entsetzt ab und wehrt ihr, denn
Niemand vermochte den Schönen zu rühren, kein Jüngling, kein Mädchen. / Jetzt, als er flüchtige Hirsche in Netze zu jagen versuchte, / Sah ihn die klangreiche Nymphe, die niemals schwieg, wenn ein andrer / Sprach […]Heiß überfällt sie die Liebe.
Als sie ihn umfangen will, flieht er und schreit: „Fort! Fort mit den Händen und Armen! Eher würde ich sterben!“ Der Schrei ist zu hören.
Und die Verschmähte verbirgt sich im Walde.
Apoll fällt in Liebe zur Nymphe Daphne, Tochter des Flussgottes Peneus. Sie aber hatte ein Keuschheitsgelübde abgelegt und alle ihre Verehrer abgewiesen. Apoll verfolgt sie. Ganz außer Atem fleht sie den Vater an:
„Hilfe, o Vater! […] verwandle mich! Nimm die Gestalt, die der Kränkung mich preisgibt!“ / Kaum hat sie solches gebetet, da fällt eine schwere Erlahmung / Ihr auf die Glieder, die schwellende Brust überzieht sich mit feiner / Rinde; es wachsen die Haare zu Blättern, zu Zweigen die Arme; / Auch die Füße, soeben so rasch noch, sie hangen in trägen / Wurzeln, das Haupt wird Wipfel: was bleibt, ist die glänzende / Schönheit.
Er greift nach ihr. Sie ist noch im Schwung der Flucht, doch schon steigen Zweige und Blätter an ihr hinauf. – Seither gilt der Lorbeerbaum Apollon als heiliges Vermächtnis. Er habe, schreibt Ovid, unter der Rinde noch ihr Herz klopfen hören.
Was Dionysos und Ariadne betrifft, so ging ihrem Verhältnis ein großes Ärgernis voraus. Theseus, der Grieche, tötet im Labyrinth auf Kreta das Ungeheuer Minotaurus. Mit Hilfe der Königstochter Ariadne, die ihm ein Fadenknäuel mitgab („Ariadne-Faden“), findet er aus den Irrgängen wieder heraus. Theseus flieht mit ihr. Doch auf der Insel Dia (Naxos) lässt er sie allein zurück und segelt auf und davon. –
Alsbald entführt der Aegide (Theseus) die Tochter des Minos; nach Dia / Setzt er die Segel und läßt die Genossin an jenem Gestade / Grausam zurück. Doch Liber (Dionysos) gewährt der Verstoßnen und kläglich / Jammernden Liebe und Hilfe. Auch soll ihr ein ewiges Sternbild / Ehre gewinnen: er nimmt von der Stirn ihr die Krone, zum Himmel / Sie zu senden. Sie schwebt durch die Lüfte, die feinen; im Schweben / Wandeln die edeln Gesteine sich um in strahlende Feuer; / Alsdann steht es stille, das Sternbild […] es behält die Gestalt einer Krone.
Der junge Dionysos nimmt der traurigen Frau die Krone vom Haupt, um den Ovidschen Vorgang auszuführen und schaut Ariadne zärtlich an.
Das glückliche Paar Zephir und Flora zeigt sich heiter. Sie trägt Blüten im Haar und ist mit einer Blumengirlande geschmückt. Auch Zephir, der milde Westwind und Frühlingskünder, lässt die Girlande durch seine Hand gleiten. Ein Zeichen der Harmonie? Diese beiden fanden nämlich nicht problemlos zueinander.
Während sie sprach, hauchte sie Frühlingsrosen aus ihrem Munde – / Chloris war ich, die ich (jetzt) Flora genannt werde […] Es war Frühling, ich irrte umher: Zephirus erblickte mich, / Ich ging fort. Er folgte, ich floh, jener war stärker […] Die Gewalttat dennoch machte er wieder gut dadurch, daß er mir den Namen der Gattin gab, und in / Meiner Ehe gibt es (für mich) keinen Grund zur Klage.
Chloris/Flora hat einen fruchtbaren Garten. Ihn füllte mein Gatte mit edlen Blumen an / Und er sagte: „Habe du, o Göttin, die Entscheidung über die Blumen!“ / Oft wollte ich die Farben ordnen und zählen / , aber ich konnte (es) nicht: die Menge war größer als die Zahl. (Ovid: Die Fasten, 5. Buch)
Was nun einmal zum Bildschmuck des Barockgartens gehört, sind die Jahreszeiten, die vier Elemente und die Erdteile. Europa – stolz (wie immer!), Asien – freundlich, Afrika – gefährlich, Amerika – wild. In Sachsen und auch anderswo hatte man von Australien noch nichts Näheres gehört.
Ich muss mich sputen, der Sichelmond gewinnt schon die Oberhand. Unter dem strengen Blick der Kassendame verabschiede ich mich und gehe in den stillen Abend hinein. Ob ich wohl Ariadnes Sternbild Corona Borealis, die „Nördliche Krone“, am Nachthimmel sehen werde?