17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Horst Hussel – Strukturen im Ungeformten

von Klaus Hammer

So sah Gerhard Altenbourg, der phantastische Realist, Horst Hussel, den 8 Jahre jüngeren „Freund H.“ (1961, Lithografie auf Karton): Ein Geschöpf fremder Herkunft stellt sich als ein Wunderbares, Ungewohntes in unseren Raum, und es ist gerade die gewöhnliche Wirklichkeit, die dessen Seltsamkeit deutlich macht. Das imaginäre Bildnis führt ein grafisches Eigenleben. Von einem zarten Liniengespinst durchzogen, wird der kaum begonnene Rhythmus immer wieder geändert und durch eine Gegenbewegung aufgehoben. Das Ergebnis ist eine seltsam irisierende, flimmernde Zuständlichkeit. Hier wird mit Freudscher Tiefgründigkeit eine Vivisektion betrieben, um das Innerste der Figur, dessen Seelenzustand zu erkunden.
Was verbindet beide Künstler miteinander und was unterscheidet sie voneinander? Altenbourgs Zeichenkunst weist Bezüge zur informellen wie skripturalen Kunst der Nachkriegsmoderne auf, während Hussels Aquarelle Parallelen zu Paul Klee haben und seine Zeichenkunst mit der lakonischen Erzählkraft Albert Schäfer-Asts oder auch Arno Mohrs verglichen werden können. Aber auf beide wirkten inspirierend die Arbeiten der Dadaisten: der freie Umgang mit der Sprache und den stilistischen Mitteln als Material. Dem beständigen Fortspinnen eines Gedankens, einer Idee, dem Weiter- und Überarbeiten eines Druckmotivs oder einer Zeichnung bei Altenbourg stehen die ironisch-hintergründigen szenischen Darstellungen Hussels gegenüber.
Die frühen Blätter, vorwiegend Zeichnungen und Lithografien, finden bei Hussel durch Radierungen und Aquarelle aus den 1990er Jahren ihre Ergänzung. Es ist eine kleinteilige, eine miniaturhafte Welt. „Ich verfüge nicht über so große Themen, es ist immer eine kleine Besetzung. Ich brauche kein Orchester, die könnte ich gar nicht alle beschäftigen“, sagt der Künstler. Und so erfreut man sich an seinen skurrilen Figurationen und Metamorphosen, dem einen Angler, der mit seiner Angel gleich einen ganzen Fischzug ans Land zieht, dem anderen, der als Raubfisch seiner Beute hinterher schwimmt, an den erfolglosen Versuchen der „Vogelfänger“, dem „Gespräch“ zwischen einem dozierenden Naturforscher und einem aufmerksam zuhörenden Eber, den „Verwobenen Figuren in Haus mit Leiter“, der „Idylle“, die ein Bild des Schreckens ist, der „Schlangendame“, die in vierfacher Gestalt einen älteren Herrn bedrängt, dem „Trinker“, der auf einer krummschiefen Leiter dem Objekt seiner Begierde – der Flasche – entgegenfiebert (Federzeichnungen oder Lithografien, alle um 1960). Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.
Das Logische wird bei dem mecklenburgischen Wahl-Berliner Hussel dann oft bis zum Paradoxon gesteigert. Linie und Farbe spielen nebeneinander ihre selbständige bedeutsame Rolle, die sich in der Phantasie des Betrachters zu gemeinsamer Wirkung ergänzen. Die Linie trägt die eigentliche Erzählung vor und schmückt sie mit wenigen, aber sprechenden Details aus; in ihrem knorpeligen, skurrilen Verlauf wird sie selbst zum Element dieser Erzählung. Die Farbe hat daneben eine ganz andere Aufgabe: sie berichtet nicht in bunten Lokalfarben, sondern taucht die Zeichnung in das Nuancenspiel einer monochromen Farbigkeit, die alle zeichnerischen Details in einer Gesamtstimmung zusammenfasst.
Hussel hat Bücher anderer Autoren und eigene Bücher illustriert, er hat unzählige Bucheinbände, Vorsatzpapiere, Vignetten und Signets entworfen. Dabei hält er nicht viel davon, dass eine Illustration unbedingt den Text interpretieren muss. Sie hat sich als „selbständige Zeichnung“ zu erweisen, die „für sich spricht“. Andererseits kommt ihm das Illustrieren auch insofern entgegen, weil ja auch seine freie Grafik ein – wenn auch sparsames – erzählerisches Element enthält. In der Tradition eines Paul Scheerbart, Kurt Schwitters oder Daniil Iwanowitsch Charms schreibt er Texte, die sich durch abgründig kühne Umkehrungen der Logik, parodistisch  beziehungsreiche Spiele mit der Sprache und logisch-semantische Paradoxien auszeichnen.
Seit 1994 hat er die Dronte-Presse geführt, einen „Verlag für Sammler und Liebhaber“, und hier vergessene Texte von Beoffrey de Reignys, Daniil Charms, Kozma Prutkov oder Scheerbart, Erstdrucke von Lothar Trolle, Wolfgang Hilbig, Friederike Mayröcker, aber auch Eigenes, so sein Singspiel „Landaufenthalt“ (mit der Musik von Georg Katzer), herausgebracht, alle mit Radierungen von Hussel versehen. Er hat Radierungen auf alten Papieren gedruckt und sie koloriert, aber auch farbenfrohe Aquarelle und Gouachen sind auf Papieren aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert entstanden – eine Begegnung von Jahrhundert zu Jahrhundert findet statt, denn er hat der alten Beschriftung einfach seine Schrift entgegengesetzt – und 2011 hat er auf den herausgelösten Seiten eines Tokyoter Geschäftsbuch mit abgestempelten Rechnungen die japanischen Schriftzeichen mit der archetypischen Zeichenhaftigkeit seiner farbigen Übermalung verbunden. Die Titel spielen in seinen Arbeiten keine so große Rolle, oft hat er sie hinterher erfunden, mitunter sind sie Notlösungen, mitunter aber auch höchst treffend.
Hussel entwickelt eine ungeheure Sensibilität, sowohl für die reine Linienspur auf dem weiten Weiß des Papiers als auch für die organische Linie, die den menschlichen Körper umgrenzt. Und so gelingt es ihm auch überzeugend, beide Linienspuren, die der Körperumgrenzung und die ihren eigenen Weg verfolgende, auf einem einzigen Bild zusammenzufügen. Von der Offenheit des Unbestimmten schreitet er zu erreichbarer Klarheit und Bestimmtheit fort. Alles Gemachte bleibt sichtbar, nichts geht verloren. „Man erfindet beim Zeichnen, und Korrekturen gibt es nicht“, sagt er. Das Thema tritt erst in der Endphase der Zeichnung im Zustand der Verdichtung und Verbindung aller Ebenen in Erscheinung.
„Ein winziges Blatt Papier kann die ganze Welt enthalten“ – dieses Credo von WOLS trifft auch auf den jetzt 80-jährigen Horst Hussel zu – ein Wort, das ihm ebenso zuwider sein dürfte wie jede Laudatio zu seinen Ausstellungen.

Die Galerie Anke Zeisler, Gethsemanestr. 9, 10437 Berlin (www.galerie-zeisler.de), stellt bis 5. Juni Aquarelle und Druckgrafiken und die Galerie Gesellschaft, Auguststr. 83, 10117 Berlin (www.galerie-gesellschaft.de), bis 21. Juni Grafik, Malerei und Zeichnungen von Horst Hussel aus.