17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Die Grüne Matrix. Naturschutz und Welternährung am Scheideweg

von Isabel Armbrust

Die Explosion der Agrarpreise 2008 löste einen beispiellosen Run auf die verfügbaren Anbauflächen dieser Welt aus. Mit Großkäufen oder langlaufenden Pachtverträgen sichern sich seitdem Unternehmen und Staaten die Grundlage für lukrative Geschäfte oder die künftige Ernährung ihrer eigenen Bevölkerung. Auf der Strecke bleiben Kleinbauern und andere lokale Produzenten, die oft nicht einmal über Besitztitel für seit Generationen genutztes Land verfügen.
Kaum ein anderes Thema ist in den vergangenen 5 Jahren in der entwicklungspolitischen Szene so intensiv diskutiert worden wie dieses Landgrabbing. Und doch greift aus Sicht des Autors von „Die grüne Matrix“ die Debatte zu kurz: Sie spart das Thema der Vertreibung von Menschen zur Etablierung menschenfreier Naturschutzgebiete aus. Von den Dimensionen her überragt dieses zweite Landgrabbing, das der Biodiversität und dem Klimaschutz dienen soll, den Landraub für die industrielle Landwirtschaft.
Rund 2,27 Millionen Quadratkilometer Agrargrabbings, die bis 2012 erfasst wurden, steht das Vierfache an Naturschutzfläche gegenüber. Allein aus den Schutzgebieten Afrikas wurde mindestens eine Million Menschen vertrieben. In Lateinamerika sind immerhin 70 Prozent der Schutzgebiete bewohnt und Vertreibungen weniger typisch. Peter Clausing, promovierter Agrarwissenschaftler, Mexiko-Aktivist und Mitbetreiber des Portals www.agrardebatte.de diskutiert in seinem ersten Buchkapitel vor allem soziologische und anthropologische Studien, die soziale Folgen des Naturschutzgrabbings dokumentieren. Sie belegen auch eine Mitverantwortung großer Naturschutzorganisationen an Vertreibungen. Meist sind diese nicht direkt involviert, aber als „geistige Urheber“ und Geldgeber beteiligt. Die Entfernung der BewohnerInnen aus den Nationalparks übernehmen die Regierungen. In dieser Weise trat zum Beispiel der World Wide Fund for Nature (WWF) in sieben untersuchten Fällen in Erscheinung.
Das theoretische Konzept, das diesem „Festungsnaturschutz” zugrunde liegt, heißt Land Sparing. Clausing stellt es im zweiten Kapitel vor. Es wurde vor knapp 20 Jahren im angelsächsischen Raum entwickelt und zielt auf nicht weniger als auf eine neue globale Raumordnung: Konzentration der Menschen in Städten und eine Aufteilung des Landes in Nutzflächen, auf denen mit intensiven Anbauverfahren, Agrochemikalien und Gentechnik die Nahrung für eine wachsende Weltbevölkerung produziert wird und in menschenfreie Naturschutzgebiete, die dem Erhalt der Biodiversität dienen.
Zur Zerstreuung menschenrechtlicher Bedenken gegen eine Umsiedlung der Landbevölkerung haben die Anhänger des Land Sparing eine historische Vorlage konstruiert: Sie deuten die gesellschaftlichen Prozesse in Europa während der Industrialisierung zu einer friedlichen Urbanisierung um. Faktisch aber, so der Autor, sei die Land-Stadt-Migration, zum Beispiel in Großbritannien im 19. Jahrhundert, schlicht eine Vertreibung in Folge einer dramatischen Landumverteilung gewesen.
Das Gegenkonzept zu Land Sparing ist Land Sharing: Eine Vereinigung von Landwirtschaft und Naturschutz in der Agrarökologie. Zum einen entfaltet sich auf agrarökologisch bewirtschafteten Flächen eine hohe Biodiversität und zum anderen dienen sie, anders als chemieverseuchte Agrarwüsten, für Pflanzen und Tiere als Durchgangskorridore („Grüne Matrix“!) zu ihren Habitaten. KleinbäuerInnen mit einem Eigeninteresse an einer nachhaltigen Bewirtschaftung ihres Landes und an einer souveränen Verfügung über das, was sie anbauen, sind dabei die besten Agrarökologen. Schließlich ist eine multifunktional gedachte Agrarökologie auch „ein Trittstein auf dem Weg“ zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung.
Aber kann sie auch die Welt ernähren? Diese spannende Frage beantwortet Clausing mit einem Verweis auf zwei Metastudien, die zusammen rund 650 Einzelexperimente zum Ertragspotential des agrarökologischen Anbaus analysieren. Zumindest in den Ländern des Südens schneidet die Agrarökologie besser ab als der konventionelle Anbau. Und „insbesondere dort“, so die Schlussfolgerung der AutorInnen, der sich Clausing anschließt, ließe sich mit ihr der Hunger beseitigen.
Die absehbare Bodenmüdigkeit nach jahrzehntelangem Einsatz von Agrochemikalien ist ein weiteres starkes Argument für Agrarökologie. In Indien und China, den Vorzeigeländern der Grünen Revolution, sind diese Folgen schon heute in Wassermangel und Ertragsrückgängen spürbar. Hier könnte zum Beispiel das System der agrarökologischen Reis-Intensivierung (SRI) Abhilfe schaffen. Clausing stellt es als Fallbeispiel vor. Die Wassereinsparung gegenüber dem konventionellen Reisanbau beträgt 20 bis 30 Prozent, zugleich fahren die Bauern einen Mehrertrag von 20 bis 60 Prozent ein und haben einen geringeren Saatgutbedarf.
Es folgen weitere inspirierende Fallstudien zu Mais in Afrika und agrarökologischen Systemen in Malawi und Niger, bei denen die Düngung und Bodenregenerierung mit Leguminosen eine zentrale Rolle spielen.
Danach kommt der Autor zu einem abrupten Ende. Es folgt nur ein knapper Epilog und Leserin/Rezensentin wundern sich, warum Clausing seinem Buch nicht noch ein Fazit aus dem Dargestellten gönnt. Schade ist auch, dass die an anderer Stelle aufgeworfene Frage unbeantwortet bleibt, ob Ackerbau ohne Pflügen (No-Till, derzeit praktiziert unter Einsatz chemischer Herbizide) auch mit biologischen Verfahren vereinbar ist.
Insgesamt setzt das den Wert von „Die grüne Matrix“ nicht herab. Der Autor hat auf kompakten 136 Seiten (plus 12 Seiten Quellenverzeichnis) eine Fülle brisanten Materials aufbereitet und entwicklungspolitisch interessierten Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz wissenschaftliche Studien vor allem des angelsächsischen Raums zugänglich gemacht. Es wäre zu wünschen, dass sich diese Inhalte auch in unseren Debatten niederschlagen.

Peter Clausing: Die grüne Matrix. Naturschutz und Welternährung am Scheideweg, Unrast-Verlag, Münster 2013, 155 Seiten, 13,00 Euro.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin aus WIDERSPRUCH Nr. 64, März 2014.