17. Jahrgang | Nummer 11 | 26. Mai 2014

Brustaufreißen liegt mir nicht

von Reinhard Wengierek

„Glauben Sie etwa, dass so ein Datum Vergnügen ist? Womöglich gar ein Grund zu feiern“, fragte sie knurrend in aller Öffentlichkeit. Das war vor fünf Jahren. Inzwischen sind die verflogen, und das Vergnügen hat sich wohl nicht vergrößert. Trotzdem wird jetzt gefeiert, auch wenn sie sich mürrisch weg duckt. Doch in ihren dunkel glühenden Stauneaugen, da sind wir sicher, blitzt wie so oft der Schalk. Happy Birthday, Gisela May! Blumen zum Neunzigsten – am 31. Mai.
Die Krawatte gehörte zu ihr wie die Zigarre zu Brecht. Und der Hosenanzug im korrekten Diseusen-Schwarz, mit Pony und keck wippendem Rothaar. So triumphierte sie, es begann in den 1960er Jahren, auf den allerheiligsten Konzertpodien aller Kontinente: Die „weltbeste“ Brecht-Weill Sängerin (das Signum „Deutschlands beste Diseuse“ hatte sie längst); umjubelt, verehrt, hoch dekoriert, mit Preisen überhäuft.
Ja, sie genoss den Glanz dieser Welt – für den Weltstar aus Ostberlin gab es keine Mauern. Und immer, und also auch jetzt, denkt sie links und tut sich schwer mit dem Elend dieser Welt.
Natürlich, sie war Aushängeschild des DDR-Kulturbetriebs (wofür sie einschlägig beschimpft wurde als „Schönsängerin des Stalinismus“). Sie war DDR-konform; zugleich aber eben DDR-kritisch. Selbstverständlich hielt sie fest zu ihrem einstigen Lebensgefährten, dem Philosophen Wolfgang Harich, auch, als der für seine Pläne zur politischen DDR-Reform jahrelang im Zuchthaus litt. Sie ist sich auch heute sicher, dass Wolfgang im Grunde richtig dachte. Nicht das System des Sozialismus sei falsch gewesen, vielmehr dessen „kranke Auswüchse“. So gesehen hatte sie nichts gegen das tierische Etikett „sozialistische Nachtigall“.
„Die kann schauspielen und die kann singen“, hatte einst Hanns Eisler entdeckt. Wobei es in ihrer Branche nicht ankommt aufs hohe C. Was zählt, sind Charakter, Intensität. „Die May“, meinte Paul Dessau, „singt nicht schön, sie singt richtig.“ Lassen wir das mit dem Schönheitsbegriff mal beiseite; wer je die Lieder aus dem „Schweyk“ gehört hat, erzittert vor deren Schönheit. Die May prosaisch: „Ich komme von den Inhalten, Brustaufreißen, das liegt mir nicht.“
„Mein künstlerischer Weg ging unsensationell, mühsam und langsam bergan.“ Am Anfang stand Gisela, Tochter eines Schriftstellers und einer Schauspielerin aus Wetzlar und noch nicht volljährig, als Elevin mit einem Vertrag als Soubrette auf der Bühne: für 150 Mark im Komödienhaus Dresden. 1951 dann der große Sprung nach Berlin: erst Deutsches Theater (ein Lehrer: Wolfgang Langhoff), später Berliner Ensemble. Mehr als 700 Mal war sie dort in Brechts „Schweyk“, Erich Engels letzter Inszenierung, die so gütige wie durchtriebene „Kelch“-Wirtin Kopecka. Als spektakulär galt seinerzeit das Gastspiel im Berliner Metropol-Theater: In „Hello Dolly“ schäumte sie die Hauptrolle auf mit ironiedurchsetztem, deftigem Humor. Legendär ihr Ausflug an die Staatsoper Unter den Linden. In „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ (Brecht/Weill) stellte sie als „Anna I“ selbst die als unerreichbar geltende Lotte Lenya in den Schatten – so das einhellige Urteil der internationalen Kritik. Barrie Kosky übrigens, Intendant der Komischen Oper, hat vor kurzem erst, bei seiner Spielplankonferenz, respektvoll daran erinnert.
Einer anderen ganz Großen stand sie gleichfalls nicht nach. Als Mutter Courage (13 Spielzeiten lang!) beerbte sie Helene Weigel und vermochte der Figur eine bis dahin ungeahnte erotisch-verführerische Kraft zu geben. Dass die May obendrein in vielen DEFA- und DDR-TV-Produktionen präsent war, versteht sich von selbst.
Ihr größter Theater-Erfolg, die Courage am BE, war zugleich ihr letzter, schade auch insofern, da die May das Zeug hat zur großen Volksschauspielerin. Immerhin: Als „Mutter“ von Evelyn Hamann („Sach nicht immer Muddi zu mir!“ – „Ja, Muddi.“) in der Serie „Adelheid und ihre Mörder“ wurde sie heimisch in den Stuben der Fernsehnation. Dass die May ohne schwarze Krawatte eine klasse Komikerin sein kann, wussten wir freilich schon, bevor sie für die ARD lustvoll den bunten Kittel überzog.
Es war im Frühjahr vor nun schon 22 Jahren, als die BE-Ikone (wohl gerade deshalb) von der damals neuen Direktion umstandslos „abgewickelt“ wurde. Ein „Schock“ für sie, eine „tiefe Kränkung und Missachtung meiner Leistung“. – „Die Neuen am Schiffbauerdamm zielten auf eine andere Art Theater: kein Realismus, keine Identifikation des Publikums mit den Figuren. Man wollte etwas Gebrochenes; in übersteigerter Form sollten das Chaos, die Brutalität der Gesellschaft auf die Bühne. Sie glaubten, das rüttle die Leute besonders auf. Ich finde, das stumpft nur weiter ab. Schon Brecht verwies auf die ‚so ansteckende Krankheit der Unempfindlichkeit‘.“
Als dann Claus Peymann zur Jahrtausendwende antrat als BE-Direktor, holte er die May zurück für umjubelte Chanson-Abende. Inzwischen singt sie nicht mehr; müsse ja keiner hören, dass die Stimmbänder kratzen. Also greifen wir zur Konserve. Nochmal das große einfache, im besten und schönsten Sinn volkstümliche Lied, das die Wirtin Kopecka hinterm Tresen der verrauchten Prager Bierkneipe „Zum Kelch“ ihren schwermütigen Zechern vorsingt, und das ist nicht nur ein politisch Lied, sondern auch ein hoher Gesang vom ewigen Lauf des Daseins: „Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne / Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. / Und geh‘n sie einher auch wie blutige Hähne / Es wechseln die Zeiten, da hilft kein‘ Gewalt. / Am Grunde der Moldau wandern die Steine… Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine…“