17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Wer zählt die Völker, nennt die Namen …*

von Alfons Markuske

Der schönste Veranstaltungsort der lit.Cologne ist das Literaturschiff, das, während Schriftsteller, Moderatoren und Vorleser ihres Amtes walten, über den Rhein gleitet und mehr als nur einen Blick auf jene Kulisse beiderseits des Stroms gestattet, die der Kölner mit einem Anflug von Größenwahn gern Skyline nennt, die mit Silhouette aber begrifflich hinreichend erfasst sein dürfte. Dank Dom und dreier in ihrer Gestalt an Auslegerkrane erinnernde Nobelquartiere direkt am Ufer ist der Anblick trotzdem nicht ganz unimposant.
In diesem Ambiente ging es unter anderem in einer Preview um Philipp Meyers erst im Mai auf Deutsch erscheinendes Opus „Der erste Sohn“. Meyer hatte vor wenigen Jahren mit seinem Debüt – deutscher Titel: „Rost“ – dem perspektiv- und hoffnungslosen Leben zweier junger Männer in der vom industriellen Niedergang geprägten Region um Pittsburgh eindrucksvoll literarische Gestalt verliehen. Früher war die Gegend ein Zentrum der Stahlindustrie, heute steht sie exemplarisch für den an vielen Stellen der USA seit Jahrzehnten um sich greifenden wirtschaftlichen Verfall und die damit einhergehende soziale Deprivation. „Kein Land für junge Männer“, brachte es seinerzeit ein Rezensent auf den Punkt.
Nun hat sich Meyer die amerikanischen Gründungsmythen am Beispiel von Texas vorgenommen, in Gestalt einer Familiensaga über eine Dynastie von Rinder- und Ölbaronen über drei Generationen, historisch akribisch durchrecherchiert bis ins Detail. Das dabei rigoros dekonstruierte Märchen von den rechtschaffenen eingewanderten europäischen Pionieren, die mit Planwagen aufbrachen, um die Zivilisation in die quasi menschenleere Wildnis zu bringen, und die sich nur wehrten, wenn barbarische Rothäute sie daran hindern wollten, als verlogene Geschichtsklitterung entlarvt haben zwar andere bereits lange vor Meyer und sehr eindrücklich überdies – zum Beispiel Arthur Penn mit seinem Anti-Western „Little Big Man“ von 1970. Als Kritik an Meyers Gegenstand soll dieser Hinweis allerdings nicht verstanden werden, denn das Märchen wird bis heute nicht nur in den USA geglaubt und muss daher immer wieder bloß gestellt werden. Das gilt auch für die heroischen Legenden über die kriegerischen amerikanisch-mexikanischen Auseinandersetzungen um Texas, die etwa John Waynes „Alamo“ auf eine Weise glorifiziert hat, gegen die, legt man ihre ideologische Langzeitwirkung zugrunde, offenbar nicht anzukommen ist. Wayne steht, da ist Meyer zu folgen, als Synonym für diesen Teil des konservativen weißen amerikanischen Gründungsmythos.
Der Schriftsteller selbst vermied es in seinem neuen Roman zugleich, dem linken Gegenmythos auf den Leim zu gehen, der die indigene amerikanische Bevölkerung zum idealen, naturverbundenen, friedfertigen menschlichen Pendant der weißen Einwanderer hochstilisiert. Die einheimischen Völker unterschieden sich eher wenig von europäischen, wie Meyer dezidiert ausbreitet. So eroberten etwa die Apachen, als Texas bereits spanisch kolonisiert war, große Teile des Landes und unterdrückten, Massaker eingeschlossen, die dort lebenden Stämme, bevor ihnen die Komantschen ein ähnliches Schicksal zuteilwerden ließen.
Gelesen aus „Der erste Sohn“ hat Joachim Król. Text und Stimme verhielten sich dabei wie ein absolut passendes Ensemble von Bild und Rahmen zueinander. Es bleibt zu hoffen, dass das inzwischen gänzlich unvermeidliche Hörbuch einzulesen diesem Schauspieler übertragen wird.
Gott hätte Noah, so Margaret Atwood zur Einführung ihres aktuellen Buches „Die Geschichte von Zeb“, versprochen, die Menschheit nicht noch einmal mit einer Sintflut heimzusuchen. Dieses Versprechen habe er gehalten. Aber angesichts des fortgesetzt wenig gottgefälligen Umgangs der Menschen mit sich selbst und mit der Erde sei es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Gott sich habe etwas anderes einfallen lassen: eine sintflutartige Pandemie, die den größten Teil der Menschheit ausgelöscht habe.
Endzeit ist angesagt: Chaos, Anarchie, entvölkerte Städte, die die Natur sich zurückerobert, zerstörte Landschaften, mutierte Tiere und Pflanzen und mitten drin, zurückgeworfen auf täglichen Existenzkampf, wenige Überlebende. Das ist der Stoff, aus dem die große alte Dame der zeitgenössischen kanadischen Literatur – sie wird im November 75 – eine Trilogie gestaltet hat, deren Abschlussband sie auf der lit.Cologne präsentierte. Mit jungmädchenhaftem Schalk in den Augen und jenem, manchem Germanen unverständlichen angelsächsischen Esprit, der eine Sache funny and serious im selben Atemzug zu behandeln versteht. Und mit einem koketten Hofknicks fürs anhaltend applaudierende Publikum am Ende. Dessen Ovationen galten dabei auch und völlig zu Recht Claudia Michelsen und ihrer einfühlsamen „Vorlesung“.
Yasmina Reza, die weltweit meist gespielte zeitgenössische Dramatikerin und Französin mit ungarischen sowie iranischen Wurzeln, gilt nicht erst seit „Der Gott des Gemetzels“ als Expertin dafür, wie dünn jene Firniss an Kultur und humanistischer Bildung, Empathie, Altruismus und davon geprägten Umgangsformen im Wesen des Menschen und seinem Verhalten ist. Diese empfindliche Membran wird gemeinhin und zur Abgrenzung von ihrem Gegenpol, der Barbarei, Zivilisation genannt. Die Barbarei jedoch lauert direkt unter der Oberfläche, abgrundtief, und kann jederzeit –ausgelöst gern auch durch Nichtigkeiten – mit Urgewalt hervorbrechen und die zivilisatorische Tünche so gründlich wegfegen, dass sich die Frage stellt: Was ist hier Regel und was Ausnahme?
Da Yasmina Reza zugleich die Kunst der Eskalation meisterlich beherrscht, hält sie ihrem Publikum immer wieder einen Spiegel vor, in den dieses mit einer Mischung von Faszination und Grauen, mit einem Hauch von Wollust, blickt. Die Protagonisten in ihren Stücken und ihrer Prosa entstammen zwar meist der bürgerlichen Mittelschicht, doch zum Trost gereicht das kaum. Was Reza vorführt, sind allgemeinmenschliche Verhaltensweisen und Abgründe.
So auch in ihrem neuen Buch „Glücklich die Glücklichen“, dessen Titel einem Gedicht von Jorge Luis Borges entlehnt ist, aber mitnichten auf einen Vorstoß Rezas in neue Sphären der menschlichen Existenz verweist, sondern auf ihren unverändert sardonischen Humor. Denn ausgebreitet wird einmal mehr ein Pandämonium zwischenmenschlicher Schrecknisse, Täuschungen und Verletzungen, in dem in insgesamt 18 Monologen weibliche und männliche Betroffene zu Wort kommen – Täter und Opfer in einem.
Die Vorstellung des Buches auf der lit.Cologne zu einem besonderen Höhepunkt machte der expressive Vortrag einiger „männlicher“ Episoden durch Markus John, dem als langjährigem Mitspieler in „Der Gott des Gemetzels“ ein reichhaltiger Fundus an Reza-Erfahrungen zur Verfügung steht. Er war für die erkrankte Senta Berger eingesprungen. Mir diese für die weiblichen Parts in „Glücklich die Glücklichen“ zu imaginieren – mit John als Partner – ergab eine höchst prickelnde Vorstellung. Vielleicht kommen ja Hörbuchmacher auch auf diese Idee.

* – Der erste Teil dieses Berichtes erschien in Ausgabe 7/2014.