17. Jahrgang | Nummer 9 | 28. April 2014

Umschau in Passau

von Renate Hoffmann

Um sich der Stadt zu nähern, besieht man sie, zu eigenem Vorteil, zuerst von oben und steigt zur Veste Oberhaus hinauf. Da liegt sie – eng aneinander geschmiegt, reich betürmt und von den Armen dreier Flüsse umfangen. Welch seltenes Bild. In hellem Grün nähert sich der Inn; von den Mooren des Bayrischen Waldes dunkel gefärbt, fließt die Ilz heran; und die „schöne blaue Donau“ (was man so blau nennt) nimmt sie beide auf. Drei Strähnen, die sich zu einem bunten Band flechten ließen, wenn es denn ginge.
Seit urdenklichen Zeiten war Passau eine Stadt des Handels und Reiseverkehrs, zu Wasser und zu Land. Ehemals eingebunden in die weitreichenden Machtbefugnisse der ansässigen Fürstbischöfe, Hort der Bildung; und für würdig befunden, im Nibelungenlied einen Platz zu erhalten: „ … Der Bischof mit der Nichte ritt auf Paßau an. / Als es da den Bürgern der Stadt ward kund gethan, / Das Schwesterkind des Fürsten, Kriemhild wolle kommen, / Da ward sie wohl von den Kaufherrn aufgenommen … “
Um das Wesen der Stadt zu ergründen, geht man in sie hinein. Schlendert durch die Gassen, schaut in moderne Lädchen, eingenistet in alten Häusern; betrachtet Prachtbauten vergangener Tage, die den Reichtum spiegeln. Wundert sich über die schwarzen Altäre der Pfarrkirche St. Paul. Wird von der architektonischen Klarheit der ehemaligen Jesuitenkirche St. Michael eingenommen und vom Übermaß des Zierrats im barocken Stephansdom erdrückt. – Ich trinke den Espresso in einem der kleinen Straßencafés und lese am Haus Steinweg Nr. 4, dass hier der Dichter Adalbert Stifter mehrmals bei seinem Freunde, dem Kaufmann, Kommerzienrat und Reichstagsabgeordneten Franz Xaver Rosenberger (1820-1895) weilte.
Es scheint ein Ort der Berühmtheiten zu sein. Unfern vom „Rosenberger-Haus“, in Domnähe, residiert ein Anderer, der von sich reden macht. Zwar ging er nicht in die Literaturgeschichte ein, wie Adalbert, aber bedichtet und beschrieben wurde er auch. War er doch sogar Goethen bekannt! J.W.G. hatte ihn nämlich im Personenverzeichnis zur Farce „Hanswursts Hochzeit oder der Lauf der Welt“ als möglichen Mitakteur vorgemerkt. Sein hohes Alter bestimmt den Ruhm. – Unverhofft stehe ich ihm an der Mauer des Landratsamtes gegenüber. Einem übergroßen, efeuumrankten Kopf aus Stein, der mich neugierig anschaut. Neugier auf beiden Seiten.
Kurzhaarfrisur mit Stirnlocken; angedeutete Lachfältchen in den Augenwinkeln, vollwangig; und ein sinnliches, genussauskostendes, breites, alles verstehendes Lächeln. Ein Grübchen am Kinn und eine Schmarre auf der Nase. Die blieb ihm wahrscheinlich vom Sturz aus der Höhe des alten gotischen Doms. Denn von dort oben, so scheint es, fiel er herunter. Der „Passauer Tölpel“. Neben sich trägt er eine Tafel, die darüber berichtet, was man von ihm weiß oder nicht weiß und nur vermutet.
Vielleicht war es ein Kragstein aus dem 15. Jahrhundert, der den westlichen Domgiebel schmückte; vielleicht gehörte er zu einer Statue, deren Corpus beim Fall in die Tiefe zerbrach. – Im Jahre 1662 wütete in Passau ein Großbrand, der auch den Dom nicht verschonte. War das der Tag des Höllensturzes? Ich neige zu einer anderen Art der Ausdeutung: Am Fronleichnamstag, dem hohen Kirchenfest, zog, nach der Heiligen Messe, eine Prozession feierlich durch Straßen und Gassen der Stadt. Vornean die Monstranz unterm Baldachin; blumenbekränzte Kinder, die Erwachsenen, festlich gekleidet; Weihrauch, Gesänge, Gebete, Musik. Erteilung des eucharistischen Segens nach allen Himmelsrichtungen. Und donnernde Salutschüsse aus den Musketen. Dies aber wirkte wie die Trompeten von Jericho. Mit einem Mordsgetöse fiel der vom Brand geschädigte Westteil des alten Doms in sich zusammen. Kam dabei der Kopf ins Rollen? Nur er könnte, wenn er wollte, den Umstand klären – doch er schweigt diskret. Das Rätselhafte bleibt ihm unbenommen.
Eine Zeit lang soll er an der Mauer eines der Domherrenhöfe gestanden haben. Dann ließ wohl die Anziehungskraft nach und man verbrachte ihn auf die Veste Oberhaus. Aber die Passauer wollten sein Lächeln wieder in ihrer Mitte haben und bestanden auf einer „Tölpel-Rückholaktion“. – Mit schwerem Gerät hievte man ihn über die hohe Mauer, seilte ihn auf einem Spezialgestell ab, hob ihn auf einen Transporter, und nun hielt er wieder Einzug in die Stadt. Nicht so spektakulär wie einstens Kriemhild, doch ebenso freudig begrüßt.
Im Mai begeht der „Passauer Tölpel“ das zehnjährige Rückholaktions-Einweihungs-Jubiläum. Er lächelt, dem ungeachtet, auch fürderhin – begrünt, umblüht, bestaunt, lässt den lieben Gott einen frommen Mann sein und die Passanten freundliche Leute. Und was seine Meinung über den Lauf der Dinge angeht, so steht sie ihm ins Gesicht geschrieben: Lasst Euch nicht verleiten / oder gar irre machen, / das Leben hat heit’re Seiten, / würde ich sonst noch lachen?