17. Jahrgang | Nummer 7 | 31. März 2014

Der Gefangene in Alaska

von Eckhard Mieder

Am 4. April 2043 fand die elfjährige Sinaida Snowdenowa beim Bummeln und Muschelsammeln am Strand von Lavrentija eine Flaschenpost. Dass es sich um eine solche handelte, war dem leicht introvertierten und die Einsamkeit liebenden Mädchen rasch klar. Sie kratzte den algig-schlierigen Belag ab, hielt die Flasche gegen das Licht und erblickte drei zusammengerollte Stück Papier. Sinaida Snowdenowa, ein Mädchen, das noch immer gern Märchen in Papier-Büchern las und sich nichts daraus machte, dieser Gewohnheit wegen von ihren Klassen-Gefährten verspottet zu werden, hüpfte nach Hause. Ihr Vater, ein pragmatischer Marine-Offizier, zerschlug die Flasche; ihre Mutter, eine Russin, die es aus dem fernen Moskau (und aus Liebe) an die Beringstraße verschlagen hatte, glättete sanft-archäologisch die Röllchen.
Augenscheinlich lagen auf dem Teflon-Küchentisch drei kurze Briefe, die ein gewisser Semjon im Jahre 2033 an seine Liebste, an seine Mutter und an einen Freund abgeschickt hatte. (Warum er für seine Post den Seeweg wählte, würde späterhin für Spekulationen und manche Hypothese sorgen. Die wahrscheinlichste war tatsächlich: Semjon traute den elektronischen Post-Wegen seiner Zeit nicht. Er selbst konnte nicht mehr gefragt werden: Er war mitsamt seinem Sturmgewehr wenige Tage nach dem Abfassen der Post von einem Eisbären gefressen worden.)

Kotzebue, 4. April 2033

Liebe Mutter,
es ist arg kalt hier (wir haben 30 Grad Minus) und ich sehne mich nach Odessa. Natürlich werde ich meinen Auftrag erfüllen und zusammen mit meinen Kameraden dafür sorgen, dass Alaska russisch bleibt. Das haben wir erst gestern Abend während meiner Geburtstagsfeier erneut besiegelt. Wer wüsste besser als Du, meine Mama, dass ich gestern vor 19 Jahren zur Welt kam. Und ich erzählte den Jungs, die gleich mir etwas müde und matt sind, von den Tagen vor meiner Geburt: als wir mit der Krim wieder zu Russland stießen! Das war ein Jubeln und Tosen!
Zwar meinte einer der Kameraden, dass er lieber auf der Krim säße als am Stadtrand von Kotzebue. Aber wir anderen lachten, stießen an und sangen dann das Lied von der Katjuscha, die durch die Wiesen eilt zu eines Flusses steilem Uferhang. Das waren noch Zeiten! Aber ich möchte ehrlich zu Dir sein, Mütterlein. Manchmal fühle ich mich verloren in den Weiten unserer Heimat. Ich zweifle nicht an Russland. Niemals! Wir alle tragen den Mut der Kapitäne und Entdecker Deschnjow und Tschirikow im Herzen! Wir alle verachten Zar Alexander II., der Alaska damals für einen Judas-Lohn an die Amis verkaufte! Und wir alle tragen Bildnisse des Zaren Wladimir P. in der Hemdtasche! (Besonders ich, der ich als Russe auf die Welt kommen durfte!)
Aber wir sehnen uns auch alle zurück in die Arme unserer Familien, des grusinischen Rotweins und – unserer Liebsten. Die Liebste von allen bleibst du, Mama.

Kotzebue, 4. April 2033

Liebste Mascha,
ich verzehre mich nach Dir, ich liebe Dich! Ich fühle mich – wie Puschkins Gefangener im Kaukasus, nur dass ich ein Gefangener in Eis und Schnee bin. „Lang war der Jüngling wie im Grab / In schwerer Ohnmacht Bann gelegen“ – so fühl ich mich. Und keine Tscherkessin weit und breit, die mir eine Schale Kumys kredenzt. Und Wein. „Und Hirse weiß wie Schnee und rein…“
Nein, Mascha, das war ein Scherz! Sorge dich nicht! Ich sehne mich nur nach Dir, meine Winterkirsche! Du bist meine Tscherkessin, die mir eines Tages die Fesseln durchfeilen wird! Das meine ich symbolisch, wie Du gewiss verstehst! Ich will nur fort von hier! Der vaterländische Auftrag hält mich, gewiss. Ich bin ein zuverlässiger Soldat. Aber wenn Du mein Herz spüren könntest, in den Händen hieltest…
Die einheimischen Mädchen, viele unter ihnen Inuits, reizen mich nicht. Die Amerikanerinnen ohnehin nicht. Sie sind unecht: vom Scheitel bis zum Fußnagel nur rasiert, gefärbt, geschnitzt! (Ich weiß, dass auch Du eine Neigung hast, dich zurechtzumachen. Wenn du dabei nur nicht deinen Liebreiz verlierst! Deine Natürlichkeit, Mascha!) Und wie sie sich ranschmeißen an uns! Aber wir sind Helden! Wir lassen uns nicht kaufen!
Es ist rechten, dass unsere ruhmreiche Armee Alaska übernommen hat. Wie die Mexikaner Florida und Kalifornien zurückholten! Die so genannten Vereinigten Staaten – was sind sie anderes als zusammen geraubtes Land! Das wieder parzelliert werden muss! Das zurückgegeben werden muss an ihre einstigen Besitzer! Was soll ihr Gerede von Freiheit! Über das die Welt seit Jahren und Jahrzehnten lacht!
Aber was soll die Scheißpolitik, Liebste mein. Warte auf mich! „Nicht lang bleibt Frauenliebe treu, / Der Trennung Kühle flieht in Eile: / Wenn Liebe geht, kommt Langeweile, / Wie lang – die Schöne liebt aufs neu!“ – Es wäre so entsetzlich, verlöre ich Dich an einen der Schisser daheim! (Was macht eigentlich Grischa?) Ich zähle die Tage bis zum Urlaub.

Kotzebue, 4. April 2033

Wali otsjuda, Grischa,
mal ehrlich, du Teufelsarsch! Kannst Du mir nicht mal einen Geburtstagsgruß schicken! Du willst mein bester Freund sein? Aber du hast Recht. Was sollte ich anfangen mit einem Gruß aus Odessa?
Ich sehe Dich sitzen am Hafen, die Sonne scheint Dir auf den Bauch – he, Mann, recht tust du daran. Eine Saftige im Arm. (Nur lass die Finger von Mascha!)
Ich will Dir die Laune nicht verderben. Nur so viel: Es ist echt zum Kotzen, hier in der Arschkälte zu sitzen und irgendsoein Knecht in irgendsoeiner Global-, Macht-, Gewalt- und Halt-die-Fresse-Politik zu sein. Die Zaren teilen sich die Welt auf, die Oligarchen verdienen dran, wir haben sie auf dem Buckel und lassen uns einlullen von den Shows und Moderatoren und Bullshit-Bildern! Wie blöde sind wir, dass wir den Scheiß mitmachen? Was soll ich hier in Kotzebue? Wie lange geht die Scheiße schon? Schon immer? Ist es schon ein Argument, dass es den Dreck für immer geben muss, weil der Dreck grad so gut funktioniert?
Naja, bis bald!