17. Jahrgang | Nummer 5 | 3. März 2014

Köpfe, nichts als Köpfe

von Renate Hoffmann

Von Donaustauf durch den regennassen Wald. Dem Ruhm entgegen. Walhalla auf dem Bräuberg. Ein klassizistischer Tempelbau, hoch über der Donau, dessen Standort inmitten treudeutscher Landschaft ein wenig seltsam anmutet. Auf der Höhe angelangt, gilt der Blick der weiten Flussebene und den sich auflösenden Regenwolken, dann erst der „heiligen Halle“.
Leo von Klenzes Bauwerk, wuchtig, großrahmig, entsprach dem Anliegen seines Auftraggebers König Ludwig I. von Bayern: „Größe muß in der Bauart sein, hohe Einfachheit, verbunden mit Pracht, […] würdig werdend dem Zwecke.“ Den Zweck sah Ludwig in einer Ehrung von Männern und Frauen mit herausragenden Leistungen, sowohl in Friedens-, als auch in Kriegszeiten; rückblickend, gegenwärtig und zukünftig. Für den Einzug in den walhallischen Dunstkreis sollte gelten, dass der (oder die) Aufzunehmende „teutscher  Zunge sey“. Das weitete den Rahmen. So findet man „Die drei Männer vom Rütli“ (sofern sie nicht rätoromanisch sprachen …), Maria Theresia und Jan van Eyck ebenso unter den Auserwählten wie die Große Katharina von Russland, Erasmus von Rotterdam, der das Lob der Torheit sang und Bonifatius.
Vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriegszüge, dem Elend und Niedergang deutscher Lande, entstand Ludwigs Idee von der Rückbesinnung auf bleibende Werte. Das traf den Nerv der Zeit. – Leo von Klenze (1784-1864), Architekt, Archäologe und Maler, künstlerisch auf Augenhöhe mit Schinkel, schöpfte aus dem Vollen. – Die Ausmaße seines Tempelbaues gleichen weitgehend denen des Parthenons auf der Akropolis. Deshalb weht es einen hier oben so „athenisch“ an.
Der König betraute nicht nur einen der besten Architekten mit seinem Vorhaben, er wählte für die Gestaltung der Bildwerke auch unter der Künstler-Elite sorgfältig aus. Zu den Beauftragten zählten, neben anderen: Johann Gottfried Schadow, Christian Daniel Rauch, Christan Friedrich Tieck, Johann Heinrich Dannecker und die Bildhauerfamilie Schwanthaler. Man ahnt, wohin die vier Millionen Gulden flossen, welche die „Einfachheit mit Pracht“ kostete. Die Beschlussfassung der kühnen Idee geschah im Jahr 1807 und die Einweihung der „Götterhalle“ – sinnbezogen auf das Datum der Völkerschlacht bei Leipzig – am 18. Oktober 1842.
Ich betrete den Tempel der Auserkorenen. Eine gewisse Feierlichkeit lässt sich nicht leugnen, wenn man über den Sternenfußboden geht und einen Himmel mit Strahlesternen aus poliertem Zinn über sich hat. Vielfarbiger Marmor bricht die Strenge des Hauses. Die hehre Versammlung – so verzeichnet es die gegenwärtige Aufstellung – umfasst 130 Porträtbüsten und 65 Gedenktafeln der für würdig befundenen Personen. Die würdigen Frauen sind in der Minderzahl.
Unversehens steht man in den großen Abläufen von Geschichte, Politik, Kultur und Wissenschaft. Ich halte Ausschau nach den frühen Dichtern. Da man ihre Physiognomie nicht genau kannte, erhielten sie Gedenktafeln. Roswitha von Gandersheim, die aufsässige Schreiberin. Walther von der Vogelweide, der souveräne Lyriker des Mittelalters. Sogleich bringt sich seine Miniatur aus der Manessischen Liederhandschrift in Erinnerung samt den Verszeilen: „Ich saz uf eime Steine … “ Ich hätte Walther eine Büste gegönnt, auch wenn sie ein wenig geschwindelt wäre.
Der Dichterkranz ist reich bestückt. Angemessen dem Ruf, die Deutschen seien ein Volk der Dichter und Denker. Christoph Martin Wieland trägt sein dunkles Käppchen hier nun in weißem Marmor, und G.W. Schadow gab ihm ein wissendes, verständnisvolles, liebenswertes Lächeln. Mit Heinrich Heine, dem vorzüglichen Journalisten und Dichter tat man sich schwer; im Leben wie im Tode. Erst im Jahr 2010 fand er Aufnahme in die illustre Runde des Hauses, in der Schiller und Goethe längst ihren Thronsitz inne hatten.
In den Musikerkreisen findet man sie alle, die Hochgelobten – von Bach bis Richard Strauß. Hört man nicht ihre Klänge? Wolfgang Amadé ist unter Franz Xaver Schwanthalers Händen fast etwas zu genialisch geraten. Der Tondichter, ein Göttergleicher. Joseph Haydn trägt auf seinem Abbild einen falschen Namenszug: „Heyden“ – es schreibt sich wohl auch leichter.
Der kühne Denker Immanuel Kant und Gottfried Wilhelm Leibniz, nach dem die bestehende Welt die beste aller möglichen ist; sie erhielten ihren verdienten Ehrenplatz.
Unter den Malern wählte C.D. Rauch zur Gestaltung Anton van Dyck und Albrecht Dürer. Nahm er für die Darstellung des Letzteren dessen „Selbstbildnis im Pelzrock“ zum Vorbild?
Hochrangig ist die Wissenschaft vertreten. Kopernikus und Kepler hob man auf den Sockel. Friedrich Wilhelm Herschel, Sir F.W. Herschel, der Grenzgänger zwischen Musik und Astronomie schaut nun nicht mehr in den englischen, sondern in einen deutschen Sternenhimmel. Bei Justus von Liebig denke ich despektierlich an „Liebigs Fleischextrakt“. –  Am 23. Mai 1990 zog Albert Einstein, „der zweite Newton“, in die Ehrengalerie ein. Hätte er es gut geheißen, hier zu weilen, der Mann mit den herausragenden Denkprozessen, dem bissigen Humor und seiner Ablehnung eines Deutschlands nazistischer Prägung?
Den Kriegsleuten bin ich nicht sonderlich gewogen – ihre Verdienste bleiben ihnen jedoch unbenommen. Achtungsvoll grüße ich Scharnhorst und Gneisenau. Gebhard Leberecht von Blücher, der Draufgänger, der mit der Rechtschreibung Hadernde (Liebe Male! „Die Franzosen sitzen in die Tinte …“), Spieler, Schuldenmacher, von seiner Truppe hochgeschätzt, in den Freiheitskriegen gefeiert – ist eines Wortes wert. Als er am 26. August 1813 an der Katzbach mit der preußisch-russischen Armee das napoleonische Heer aufs Haupt schlug, gaben ihm die Russen den ehrenvollen Namen „Marschall Vorwärts“, denn mit dem Ruf „Vorwärts, vorwärts, Kinder!“ hatte er die Soldaten angetrieben. Gebhard Leberecht erreichte als Erster Leipzig zur entscheidenden Auseinandersetzung und verfolgte die französischen Truppen bis weit in den Westen. Die Londoner bejubelten späterhin „Old Blücher“ bei seinem Besuch und wählten ihn zum Ehrenbürger ihrer Stadt – Leichte Verneigung meinerseits. Rauch schuf Blüchers Büste 1817 „nach dem Leben“. Geschichten über Geschichten.
Potentaten sind ihrer viele. Sie tragen charakterisierende Beinamen: Der Verehrungswürdige, der Bärtige, Erlauchte, Fromme, Heilige, der Löwe, der Siegreiche; dazu, mehrfach vertreten, die „Großen“ mit Friedrich II. an der Spitze. Das Porträt eines alten, schmallippigen, herrischen Mannes. Schadow hat ihm nicht geschmeichelt.
Mit Trauer und Hochachtung stehe ich einer jungen Frau gegenüber. Sophie Scholl. Studentin und Mitglied der Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Die Einundzwanzigjährige, die den Mut besaß, in der Gerichtsverhandlung dem Vorsitzenden des Volksgerichtshofes Roland Freisler ihren Beweggrund zum geleisteten Widerstand klar zu nennen: „Einer muß damit anfangen. Was wir sagten und schrieben, denken so viele. Nur wagen sie es nicht auszusprechen.“ Drei Stunden nach der Urteilsverkündung am 22. Februar 1943 wurden sie, ihr Bruder und ein Mitverurteilter hingerichtet. Unter ihrer Büste lese ich die Worte: „Im Gedenken an alle, die gegen Unrecht, Gewalt und Terror des ‚Dritten Reichs’ mutig Widerstand leisteten.“
Betroffenheit, Besinnung und Bereicherung im Kreise der stillen Gesellschaft. Und Gedanken zu einem Weltbild, die mich noch lange begleiten.