17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Wer kann, darf

von Herbert Bertsch

Ohne in urheberrechtliche Schwierigkeiten kommen zu wollen, soll an den Beitrag im Blättchen, Ausgabe 21 vom 14. Oktober 2013, von Margit van Ham „Edward Snowden, Dilma Rousseff und taube Ohren …“ erinnert werden: „Es ist, als sei ein Schalter umgelegt worden. Die Berichterstattung hierzulande über die NSA und ihre Helfer bei der Überwachung der Welt ist abgeebbt.“
Wenige Wochen danach können wir den Konjunktiv getrost vergessen, obwohl die Forderung der Autorin zunehmend aktuell ist: „Es gibt Dinge, über die man nicht schweigen darf.“ Denn da tut sich was; Tendenz: Paradigmenwechsel. Aber in die falsche Richtung!
Zunächst die nüchterne Erkenntnis, dass immer neue und verwirrende Enthüllungen zwar weiter fließen, aber gleichsam zerfließen, weil – um im Bilde zu bleiben – die Deiche geschleift, die Schleusen geöffnet wurden.
Sarkastisch könnte man den Vorgang vergleichender Weise so abhandeln: Ist die „Finanzkrise“ ausgebrochen, obwohl das Finanzkapital dies noch geheim halten wollte, dann gewinnen wir bei scheinbarem Ausverkauf, denn den übernehmen wir selbst. „Wir“ – die Verursacher!
Dem global Player kann es schon mal unwohl werden, wie eben dem Menschen als solchem: Der eine wie der andere hat weder Lust noch dringendes Bedürfnis, immer wieder zu leugnen, zu manipulieren, zu verschleiern, sich sozusagen „klein zu machen“. Man kann eine Sache bekanntlich auch ganz anders behandeln. Wozu gibt es die Vorwärtsverteidigung, wenn sich dafür die Möglichkeit auftut? „Wirf (wenn Du hast! – H.B.) Dein Herz über den Fluss und spring hinterher.“ (Indianisch.) Dann also weg mit den Tarnnetzen und – once and forever – die Machtverhältnisse klargestellt! Und dabei gilt als Maxime: Wer kann, darf, oder wenn nicht, dann tut er es eben, ohne zu dürfen. „Wir“ machen das Regelwerk! Und dann kann der Rechtsstaat ran, um dies in geeignete Normen zu fassen, modernes Völkerrecht inklusive.
Wenn wir, die NSA als legaler Repräsentant der USA, diese Lawine nicht selbst losgetreten haben, desto besser; dann haben wir zusätzliche Legitimation, uns noch effektiver aufzustellen, nebenher „unsere“ Verräter auszumerzen und Abschreckung in den eigenen Reihen zu exekutieren. Aber auch im engen Kreis braucht man zunächst Motivation für die neue Strategie. „Nun wirbt Geheimdienstchef Keith Alexander in einem Brief an die Familien seiner Mitarbeiter offenbar um Verständnis, Nachsicht und Unterstützung. Neben Lob und viel Pathos gibt es eine klare Ansage: Da kommt noch was“, vermeldete Spiegel online bereits Ende September.
Machen wir aus der Not eine Tugend! Lassen wir ohne großen Widerspruch alles sagen und zeigen dadurch mittelbar, wie weit wir die Welt nicht nur schon erneut in den geheimen Krieg gezogen haben, sondern auch, dass wir das Schlachtfeld und die Strategie bestimmen, und – nicht zuletzt – dass und wie wir über unsere Hilfsvölker verfügen. Aktuell erneuern wir zunächst das Register: Wer ist wer, und was tun? Einschalten, Umschalten, Zuschalten, Abschalten?
Wenn wir dazu abwiegelnd halbherzig sagen, dass doch „jeder spioniert“, dann wollen wir zum Beispiel in der deutschen Öffentlichkeit die Erkenntnis befestigen, es ist ehrenvoll und bringt Gewinn, an der Seite der USA stehen zu dürfen, was immer auch geschieht. Das war nach 1945 und nach 1990 die lukrativere Option. Und das wollen manche Deutsche vergessen machen?
Damit zu uns. Wir Deutsche sollten dem Schicksal danken, dass wir – zumal vor anderen, und dank uns wiederum vielleicht bald auch die Ukraine – zum Schutzgebiet gehören. Das ist unser inoffizielles Credo, eine Art Staatsraison in Zeiten der NSA-Oberhoheit über die Kommunikation. Und hat Tradition.
Mit den „Notstandsgesetzen“ (30. Mai 1968) kam das G-10 Gesetz zur „Beschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses“, das den Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst und auch den Bundesnachrichtendienst (!) berechtigte und verpflichtete, die Telekommunikation zu überwachen und Postsendungen zu kontrollieren. Das steht in Dokumentenbänden. Weniger öffentlich, aber auch zugänglich, ist, dass etwa zeitgleich die BRD ein neues, präzisierendes Geheimabkommen jeweils einzeln mit ihren „Alliierten“ einging, das diesen Überwachungsrechte in Abstimmung oder auch ohne einräumt. 1990 dann ergab sich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vermittels des „Beitritts“ der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Im Zuge dessen errang, nach Bekundung der Regierung, Deutschland seine volle Souveränität. Mindestens jedenfalls gegenüber der Sowjetunion/Russland, mit der die BRD nie Souveränitätsrechte beschränkende Geheimabkommen hatte.
Am 20. November 2012 wollte die ZDF-Sendung Frontal 21 von der Bundesregierung und einzelnen Ministerien wissen, wie es denn um die Aufhebung der Überwachungsrechte der Westalliierten stehe. Das Bundesinnenministerium, übrigens als einziger der Adressaten (!) antwortete, dass alles sehr komplex sei in der Sach- und Rechtslage, so dass das Ministerium die Sachverhalte nicht abschließend bewerten könne.
Dazu passt prima die knallharte mehrfache Äußerung des gewesenen Bundesinnenministers Friedrichs (CSU) in Bezug auf das Ausspähen und die Rolle der BRD als Objekt und/oder Täter: Alles vollziehe sich nach Recht und Gesetz. Fairerweise darf man hinzustellen, dass sich die bisherige Justizministerin vergleichbarer Global-Absolution enthielt.
Andere Zeiten – andere Sitten! In gehobenen Kreisen, die zwar Unwohlsein mit NSA und all dem Kram artikulieren, sich dennoch aber bedeckt halten, statt direkt oder unter Ausschöpfung der Rechtswege gegen die Regierung vorzugehen, kursiert: „Gentlemen do not read each other’s mail – die Post anderer Gentlemen lesen Gentlemen nicht.“ So der amerikanische Außenminister Henry Stimson 1929, als ihm berichtet wurde, man habe die Codes der japanischen Marine und des diplomatischen Dienstes „geknackt“; er untersagte die weitere Entschlüsselung. Das galt zwar nur zeitweilig und ist überdies Einzelfall – aber erinnerungswürdig.
Nicht vergleichbar, aber (weil völlig unüblich) immerhin Ansatz einer Entschuldigung in diesem Metier ist der Brief, den der ehemalige HV A-Chef der DDR, Markus Wolf, am 21. September 1990 an Willy Brandt richtete und darin bat: „Für den Ihnen dabei zugefügten persönlichen Schmerz bitte ich um Entschuldigung.“ Gemeint war die Guillaume-Affäre.

Exkurs: In der causa selbst gab es offenbar sowohl politisches Fehlverhalten auf allen Seiten als auch die Verquickung von Umständen.
Im Auftrag von Brandt trafen sich Egon Bahr und Wolf im Juli1992 in Hamburg. Nach Bahr wollte Brandt vor allem wissen, ob Erich Honecker genaue Kenntnis von G. gehabt habe. Dazu war Wolf nicht auskunftsfähig, da er selbst nicht bei Honecker berichtete. Jegliche Information zu G. hätte sich Minister Erich Mielke vorbehalten.
Eigene Recherche scheint zu bestätigen, dass die Meinung von John le Carré auch für diesem Fall zutrifft, dass nämlich Spionagechefs in solchen ebenso hochkarätigen wie heiklen Fällen den Staats- oder Regierungschefs nur umschrieben über eine Quelle berichten und diese ihrerseits Weiteres nicht erfragen, um nicht belastet zu sein, wenn sie ihren Amtskollegen von der anderen Seite begegnen.
Einem Vertrauten gegenüber soll Honecker unmittelbar nach Verhaftung von G. geäußert haben, dass er bei genauerem Wissen diesen Einsatz untersagt haben würde. Leider haben die Umstände seinerzeit verhindert, Brandt dies noch zur Kenntnis zu geben. Wolf jedenfalls wusste wirklich nicht um die Reaktion Honeckers, die Brandt wohl erhofft hatte.
Was die NSA und deren weltumspannenden Aktionen als Ausdruck des Weltherrschaftsanspruchs der USA anlangt, ist hierzulande wie international sowohl bei Behörden wie Journalisten und interessierter Öffentlichkeit ein unverständlicher Mangel an Kenntnis signifikant. Denn der 668-Seiten-Wälzer„NSA. Die Anatomie des mächtigsten Geheimdienstes der Welt“ von James Bamford, in dem fast alle Wurzeln und Hintergründe der heutigen „Neuigkeiten“ bereits nachzulesen waren, ist auf Deutsch 2001 bei Bertelsmann schon in 3. (!) Auflage erschienen. So groß hätte die Überraschung also nicht sein müssen, „dass es so etwas gibt“.
Zur Konklusion: Ja, das Interesse verebbt. Zeit online fragte am 14. November 2013, inhaltlich ähnlich Das Blättchen schon im Oktober: „Warum protestieren wir nicht, wir Schafe?“ Eine Mehrzahl der Antworten hatte den Tenor: Weil wir Frösche im unmerklich wärmer werdenden Wasser und uns an die schleichende Zunahme gewöhnt haben. Das Fazit kann schon bei André Malraux gefunden werden: „In der Politik ist es manchmal wie in der Grammatik. Ein Fehler, den alle begehen, wird schließlich als Regel anerkannt.“ Eine Revision ist in solchen Fällen nicht zu erwarten. Und wer sollte und wollte die USA auch dazu zwingen? Internationale Sanktionen? Oder etwa die Verbündeten – allein oder als NATO? Die Fragen stellen heißt, sie beantworten.
Unbeeindruckt von all dem näherte sich bereits im Dezember die Zustimmung hierzulande zur Großen Koalition der 85-Prozent-Marke. In deren Koalitionsvertrag wird zwar der Rechtsstaat beschworen, es findet sich aber nichts Ersichtliches, wie der sich gegen Freunde wehren könnte. Das ist fast schon der Worst Case: Die Koalitionäre verspüren offenbar keinerlei Veranlassung dazu.