17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Heimspiel eines versierten Vorlesers

von Ulrich Kaufmann

Als der Autor und Kulturredakteur der Thüringischen Landeszeitung vor etwa einem Dutzend Jahren zunächst in der Tagespresse begann, sich an Dinge zu erinnern, die in unserer schnelllebigen Zeit mehr oder minder verschwanden, ahnte wohl auch er nicht, wie ihn dieses Langzeitprojekt fesseln würde. „Schuld“ daran waren auch seine zahlreichen Leser, die nicht selten Ideen zu weiteren Texten lieferten. So kamen der Dederonbeutel und das Poesiealbum (vom Autor als „Pösialbum“ erinnert) auf die „Rote Liste“ der vom Vergessen bedrohten Dinge. Der zuletzt genannte Begriff wird in einem mit „Zungenküsse“ überschriebene Text abgehandelt, der indessen Kultstatus genießt. Dieser Text stand am Beginn der Buchpremiere am 3. Dezember, die im gut gefüllten Kultursaal zu Ulla (bei Weimar), wo der Autor seit Jahrzehnten zu Hause ist, stattfand. Anlass war die Vorstellung des Abschlussbändchens der Trilogie „Dinge, die wir vermissen werden“.
Ehrengast und zweiter Protagonist des Abends war der begnadete Karikaturist NEL (Ion Cozacu), der den Autor mit seinem frechen Zeichenstift von Anfang an begleitete. Der geistreiche und wortkarge NEL, mit neuester Technik ausgestattet, „beamte“ zur Premierenfeier die schönsten seiner Zeichnungen zu den alten Dingen auf eine Leinwand.
Das Ambiente für diesen Abend konnte passender nicht sein. Die Protagonisten und das Publikum waren, wie in einem Heimatmuseum, von Dingen umgeben, die im hektischen Alltag kaum mehr vorkommen: Waschbrett, Scheibentelofon, Schreibmaschinen verschiedenster Bauart … Der Autor gestaltete sein Heimspiel geschickt so, dass er stets sein Gesamtprojekt im Auge behielt, indem er alte und neue Texte mischte, also auch solche aus den Bänden von 2002 und 2006 vortrug, welche in den Verlagen Kiepenheuer und Aufbau erschienen waren. Der geübte Vorleser wusste sehr wohl um die Wirkung einiger seiner frühen Werke. So war es kein Zufall, dass die Dreiecksbadehose nochmals ausgepackt wurde und auch die zeitigen Erfolge des jungen Qu. auf diversen Russischolympiaden fröhliche Urständ feierten. (Der Autor verschwieg an dieser Stelle keineswegs, dass er als Kind einige Jahre in Moskau verbracht hatte.)
Aus dem jüngsten Buch – „Noch mehr Dinge, die wir vermissen“ – las Quilitzsch Texte, in denen er sich an seine Qualen mit Lebertran erinnerte, an den letzten Tanz auf der Disko (die Schmuserunde) sowie an seine Herrenhandtasche, die zu ihren Hochzeiten, funktionsbetonter, auch Beischlafutensilienkoffer (abgekürzt: Buko) genannt wurde. Nicht zuletzt der Text „Die Leiden des jungen F.“, der von dessen jugendlicher Bewunderung für die Frisuren jener Liverpooler Combo erzählt, die als „Pilzköpfe“ in die Kulturgeschichte eingingen,, fehlte am Premierenabend nicht – eine weitere Miniatur, die sich mittlerweile zu einem Renner im Repertoire des Vorlesers gemausert hat.
Ein Buch findet in Quilitzsch‘ drittem Band besondere Beachtung – das vormals zur Jugendweihe „Weltall – Erde – Mensch“. Einstmals war dies großformatige Werk fast in jedem ostdeutschen Haushalt vorhanden, aber einzig die Köchin der Weimarer Waldorfschule fand noch ein Exemplar, welches sie dem Autor überließ. Das Buch mit dem anmaßenden Untertitel „Buch der Wahrheit“, für das in früheren Auflagen Walter Ulbricht ein Geleitwort beisteuerte, war vom Staat als sozialistisches Pendant zum Buch der Bücher, der Bibel, gedacht. Den fast vergessene Band nimmt der Autor zum Anlass, über gesellschaftliche Utopien der sechziger und siebziger Jahre nachzudenken. Seit Heine wissen wir von der „Janusköpfigkeit des Utopischen“. Wer wagt es heute, den Begriff Utopie (Quiltzsch spricht vom „Fortschrittsglauben“) auch nur in den Mund zu nehmen?
Ein Credo des Erzählers ist es, nur von Sachverhalten zu berichten, die er selbst erlebt hat. Quilitzsch betont mehrfach, seine Texte seien „wahr“, wenngleich er sie kunstvoll verdichtet und lustvoll überhöht. In zwölf Jahren ist so eine kleine Kulturgeschichte vergessener Dinge entstanden, für die sich ältere und jüngere Leser und Zuhörer interessieren. (Etliche Lesungen an Schulen, die ich moderieren durfte, belegen dies.)
Bei Quilitzsch’ Kurzprosatexten handelt es sich um Unterhaltungsliteratur bester Sorte. Der Autor vermittelt alltags- und kulturhistorische Bildung, wobei er den Leser als Co-Autor einlädt, eigene Erinnerungsarbeit einzubringen. Die Texte bestechen durch Witz, Charme, genaue Recherche und zahlreiche, nicht selten literarische Anspielungen. Oft sind die Geschichten auf eine Schlusspointe hin erzählt. Quilitzsch erinnert sich (in dem Text „Am eigenen Leibchen“), dass er sich schon als Kind gegen unpraktische, einschnürende und „unmännliche“ Bekleidungstücke zu wehren wusste, indem er ständig Stürze initiierte. Beim Trainingsanzug, mit dem er als Kind endlich auch reisen durfte, war dies (für den späteren Mittelstreckler) anders. Am Ende heißt es: „Von jenem Tage an gab ich mir alle Mühe, den aufrechten Gang zu trainieren. Freilich bin ich dabei noch öfter gestolpert.“

Frank Quilitzsch: Noch mehr Dinge, die wir vermissen. Mit Vignetten von NEL. Klartext-Verlag, Essen 2013, 194 Seiten, 9,90 Euro.