17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Geschundene Männer und „starckes Weibsvolck“

von Wolfgang Brauer

In Oberfranken thront über dem Tal der Haßlach die imposante Festung Rosenberg. Die gehört heute dem Städtchen Kronach. In vergangenen Jahrhunderten war sie im Besitz der Bamberger Bischöfe, die mit ihr einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt kontrollierten. Zudem galten sowohl die Vorgängerburg als auch die spätere Festung als uneinnehmbar. Daher taugte sie gut zur Aufnahme der wertvollen Person der Fürstbischöfe und deren noch wertvolleren Domschatzes. Gefährlich war es hier für wackere Glaubensstreiter dennoch: Kronach lag an der nördlichen Spitze des Fürstbistums Bamberg, die ragte wie ein Pfahl in die Lande des lutherischen Erzfeindes. Festung und Städtchen kamen erst 1803 mit dem gesamten Fürstbistum zu Bayern, nachdem dessen Wittelsbacher sich entschlossen hatten, mit dem Spätjakobiner Bonaparte gemeinsame Sache zu machen. Dessen Morgengabe an den neuen Verbündeten war neben der Duldung der Königskrone eben jener territoriale Zugewinn. Ausgehandelt wurde der Deal – das Bamberger Territorium war nicht das einzige – im Reichdeputationshauptschluß, für dessen Unkosten zugunsten beider Großkirchen wir heute noch bezahlen dürfen. Der Kaufpreis der Wittelsbacher waren einige tausende Landeskinder, die an der Beresina und auf den Feldern um Leipzig ihre Haut zu Markte tragen durften.
Über die Herkunft der Redewendung „seine Haut zu Markte zu tragen“ stochert die akademische Germanistik einigermaßen im Nebel. Im „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm findet sich die Wendung nicht. Auch Karl Friedrich Wilhelm Wanders bewunderungswürdiges  „Deutsches Sprichwörter-Lexikon“ hilft nicht weiter. Wander war nie in Kronach. In dessen Oberer Stadt, der eigentlichen Altstadt, hätte er dem Geheimnis auf die Spur kommen können. Auf dem Weg vom Bahnhof zur Festung Rosenberg muss man nämlich am Melchior-Otto-Platz vorbei, und mit diesem hat es eine eigene Bewandtnis.
Am 2. August 1651 erhielt die Stadt vom Bamberger Fürstbischof Melchior Otto Veit von Salzburg ein neues Wappen verliehen. Das war der verspätete Dank des Fürstbischofes für die erfolgreiche Verteidigung von Stadt und Festung durch die Kronacher Bürger gegen mehrfache Versuche der schwedischen Truppen zwischen 1632 und 1634, diese zu stürmen oder – etwas gefahrloser für die Angreifer – auszuhungern. Ein Wappen gab’s als Dank… und ein Privileg für die Ratsherren, ein „Habith, gleich wie solchen die Herren Burgermaister zu Nürnberg vnd Cöln tragen, dan dem regierenden Burgermaister ein guldene Ketten mit anhangendem dero Fürstl. Bildnus, einen grossen Spanischen Kragen vnd Hut“ anlässlich offizieller Auftritte tragen zu dürfen. Die Kosten mussten die Herren selber tragen, soweit ging die fürstbischöfliche Dankbarkeit denn doch nicht.
Aber des gegenseitigen Dankens war noch kein Ende: Für diese großzügigen Wohltaten benannte der Kronacher Rat den Kirchplatz der Oberen Stadt „Melchior-Otto-Platz“ und errichtete dem generösen Landesherren zu Ehren gleich noch eine Säule, auf der stolz das neue Wappen präsentiert wird. Gehalten wird es von zwei nackten Männerfiguren, die spielerisch-locker ihr Gewand über dem jeweils freien Arm liegen haben.
Das ist aber kein Mantel, auch wenn die benachbarte St.-Martins-Kirche dies nahe legen könnte. Die beiden Männer tragen ihre eigene Haut. Alexander Schöppner erzählt die Geschichte der „geschundenen Männer von Kronach“ in seinem „Sagenbuche der Bayerischen Lande“ (1852-1853). Die Sage geht von zwei Kronacher Männern, „welche Nebelkappen besaßen, womit sie sich unsichtbar machten“. Diese benutzten sie, um bei der Belagerung der Stadt im Jahre 1632 unerkannt Nacht für Nacht jeweils zwei schwedischen Geschützen die Zündlöcher zu vernageln. Eines Nachts wurden sie dennoch gefangen, der Lärm verriet sie. Den Rest der Geschichte erzählt Schöppner so: „Der (schwedische Heerführer – W.B.) ließ ihnen die Haut abziehen, um Schultern und Arme hängen und sie dann mit Peitschenhieben in das Städtlein jagen. Mitten auf dem Marktplatz fielen die Braven zusammen und waren todt. Aber die Kronacher waren dankbar und nahmen die zwei geschundenen Männer von Stund’ an in ihr Wappen auf.“
Hier haben wir die Quelle des „Die-Haut-zu-Markte-Tragens“. Das war in diesem Falle wörtlich zu nehmen. Allerdings waren es vier Geschundene. Schöppner schmückte etwas aus. „Nebelkappen“ spielten mit Sicherheit auch keine Rolle. In das Wappen kamen die Tollkühnen nicht, sie durften es halten und stützen. Aber auch nur bis 1819, dann wurden sie aus den städtischen Dienstsiegeln entfernt. Die Säule blieb.
Am Melchior-Otto-Platz befindet sich das hübsche „Café am Bamberger Tor“. Durch dessen Fenster kann man beim Verzehr empfehlenswerter kalorienträchtiger Torte die Wappensäule betrachten und darüber sinnieren, warum der Platz nicht nach den geschundenen Männern  benannt wurde. 1651 wird man ihre Namen noch gewusst haben. Aber mit Melchior Otto blieb man in der Tradition der deutschen Geschichte: Die Kleinen tragen immer ihre Haut für die Großen zu Markte, und die belohnen sich anschließend gegenseitig durch die Verleihung von Titel, Medaillen, Straßenschildern und ähnlichem Plunder.
Vor einem müssen die Ahnen der Kronacher aber noch mehr Furcht als vor Fürstbischöfen und Schweden gehabt haben: vor ihren eigenen Frauen. Diese sollen bei der Verteidigung der Stadt besonders tapfer gewesen sein. „Die Kronacher kämpfen wie die Teufel, aber ihre Weiber sind neunmal schlimmer!“, legte die Legende einem schwedischen Obristen in den Mund. Die Frauen müssen gewusst haben, was ihnen beim Fall der Stadt widerfahren wäre. „Unser Weibsvolck und Dienstmägd“ sei dem Feinde „starck begegnet, auch hinaus uffm Platz mit solchen Steinen unter die Völcker wurff, daß es viele blutige Köpff setzte“, berichtet Hanß Nikolaus Zitters Chronik über die Kämpfe vom März 1634. Die Angreifer mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen. Seit jenem Jahre lassen die Kronacher ihren Frauen bei der alljährlichen Schwedenprozession am Sonntag nach Fronleichnam den Vortritt. Eine Einmaligkeit in Deutschland.
Offenbar hat sich hier einmal das Gerechtigkeitsempfinden des Volkes gegen die Herrschaftshierarchien durchgesetzt. Letztere trauten ersterem auch in der Folge nicht über den Weg. Der Rosenberg wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg zu einer der bedrohlichsten Festungsanlagen Süddeutschlands ausgebaut. Er krönt die Stadt nicht, er beherrscht sie. Und damit jeder begreift, dass hierzulande auch heutzutage Recht und Ordnung herrschen, muss man auf dem Wege zur Festung an der Justizvollzugsanstalt Kronach vorbei. Jede Stadttopographie hat ihre Symbole.
Ansonsten ist die Männerherrschaft auch in Kronach noch ungebrochen. Im 25-köpfigen Stadtrat sitzen acht Frauen. Nur in einer Fraktion ist die Quotierung sichergestellt: Die „Frauenliste FL“, die im Landkreis immerhin drei Kreisrätinnen stellt, wird von Cilly Volk vertreten. Sie ist Hebamme. Ich glaube, das Kräfteverhältnis von 1:3 wird auch in Kronach nicht von ewiger Dauer sein.
Kronach steht im Übrigen vor einer tränenreichen Zeit im Ergebnis (männlicher) Misswirtschaft: Das Traditionsunternehmen Loewe, es war für hochpreisige TV-Geräte bekannt, steht vor dem endgültigen Aus. Das Insolvenzgericht Coburg stimmte der „Planinsolvenz“ zu, die Gläubigerversammlung akzeptierte ein Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung – also durch dieselben Herren, die den Laden in den Ruin führten. Branchenkenner meinen, „dass von der Loewe AG nicht viel übrig bleiben wird“. Die Großaktionäre des Unternehmens hatten  nach Informationen des Hamburger Abendblattes ihre Anteile bereits im Herbst für die Übertragung an einen neuen Investor vorbereitet. Zeitgleich flogen 140 Mitarbeiter auf die Straße. 650 sind von ehemals 1.000 noch übrig. „Auskehren“ nannte der „Investor-Relations-Chef“ Axel Gentzsch das. Branchenkenner sprechen von einer bevorstehenden Übernahme der Marken- und Patentrechte und des „relevanten Personals“ durch einen chinesischen Staatskonzern. Diesmal sind es in übertragenem Sinne die Frauen, die ihre Haut zu Markte tragen werden: Sie stellen das Gros der noch 650 Beschäftigten.