17. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2014

Die Bilder von Marrakesch

von Renate Hoffmann

Marokko – Land mit vielen Gesichtern, wechselnden Landschaften, einer verwickelten Geschichte; mit der Buntheit des Orients und der offenen Tür zur Moderne. Marrakesch – alte Königsstadt mit schmückenden Beinamen: „Rose unter Palmen“, „Stadt der Gärten“, „Perle des Südens“, „Rosafarbene Stadt“.
In einer Gasse, von Neugier getrieben, durch dunkle schmale Gänge, über verwinkelte Treppen aufwärts tastend, stehe ich unerwartet im gleißenden Licht über den Dächern. Da liegt sie, die lebendige Rosafarbene und gewährt Einblicke in Höfe mit flatternder Wäsche, Ladenstraßen, kleine umschlossene Gärten; zeigt Mauern, die hinter vergitterten Fenstern Geschichten verbergen. Und fern im Dunst die Berge des Hohen Atlas.
Als der Schriftsteller Elias Canetti (1905-1994) mit englischen Freunden nach Marrakesch reiste, dem Wesen der berberischen Metropole auf der Spur, suchte er die große Umschau. Er stieg über viele Stufen hinauf, um „alle flachen Dächer der Stadt auf einmal (zu) sehen. Es ist ein ebener Eindruck […] Man meint, man könnte oben über die ganze Stadt spazieren.“
Mit Canetti gehe, dränge, schlendere, eile ich durch die Souks – verweile, wähle, verwerfe wieder und verlaufe mich in ihnen. Und bestätige seinen Eindruck, hier sei es würzig, kühl und farbig. Er regt an, man solle die Verkaufsviertel mit gleichem Warenangebot nach Lust und Laune aufsuchen. Zum Exempel: „Heute möchte ich unter die Gewürze gehen.“ „Heute hätte ich Lust auf die gefärbten Wollen.“ „Heute will ich unter die Körbe gehen und sehen, wie sie sich flechten.“ Zwar gewillt, nachzuahmen, doch in der farbigen Woge untergehend, kann  ich Canettis Vorschlag nicht folgen.
Schätze und Genüsse zuhauf. Die Fantasie überschlägt sich. – Was funkelt und blitzt, sind Pailletten, die geduldig auf Tüll genäht werden. Was dort hämmert und leise kratzt, ist eine Metallwerkstatt, deren feinste Ziselierarbeiten vor den Augen der Betrachter entstehen und kleine Räume füllen, die sich in unbekannten Tiefen verlieren. Es ist, als ginge man durch Aladins unterirdische, reich bestückte Säle. Die Kunstfertigkeit ist grenzenlos.
Zwischen den Lederwaren, den Taschen, Täschchen, Gürteln, Futteralen sitzt der Händler, bewegungslos und kaum wahrzunehmen. Er ist in seinen Produkten aufgegangen. – In einem abgestellten Karren schläft ein Mann und mit ihm zwei Katzen. Ich murmele, noch etwas holprig, das soeben gelernte As-salamu-aalaikum (Der Friede sei mit Euch).
Dann gerate ich unter die Teppiche. Welches Glück, dass meine kleine Wohnung randgefüllt ist. Berberteppiche, geknüpft und gewebt. Sie gehören zu den wichtigen Ausfuhrgütern des Landes. Zumeist tragen sie leuchtende geometrische Muster auf einfarbigem Grund, aber auch stilisierte Tiere, Pflanzen und Figuren. Ehe der Verkäufer noch mehr der Herrlichkeiten vor mir ausbreitet, denke ich an den Fliegenden Teppich und entschwebe.
Kunstvoll aufgetürmte Früchte; Stände, die in winzigen Flakons Duftwässer anbieten. Nach vier Geruchsproben bin ich nicht mehr fähig, zwischen Orangenblüten und Lavendel zu unterscheiden.
Nun erst die Stoffe und Gewänder. Hauchzarte Seiden, glänzende Brokate, griffige Wollstoffe. Tücher, in Farbenvielfalt und endlos lang, zum endlosen Umschlingen geeignet. Pluderhosen und die Galabeya, das weichfallende Gewand, das jede Frau verschönt. Mit dem nachtblauen, silberbestickten Überwurf angetan, wird seine künftige Trägerin nicht gehen, sondern schreiten.
Das Erlebnis „Gewürze, Kräuter, Mineralien“ wartet in der oberen Etage eines schmalen Hauses (ich würde es nicht wiederfinden). Von feinem, unaufdringlichem Duft begleitet, erreicht man einen Raum, dessen Regale bis unter die Decke gefüllt sind mit Dosen, Flaschen, Salbtöpfen, Gläsern, Schalen. Eine Alchimistenprobierstube. Zur Begrüßung erhält der Gast eine Tasse Minztee, das marokkanische Nationalgetränk. Mentha x piperita soll Seele und Geist erfrischen, welches nötig ist, denn es folgt eine pharmazeutisch-gastronomische Lehrstunde. Von Argan-Öl bis Zimtstange.
Riechen, schmecken, fühlen und nichts durcheinander bringen: Dies für außen, das für innen oder Schwarzkümmelöl  für, beziehungsweise gegen alles. Safran – gelb und teuer, verfeinert die Gerichte. Alaun – auch von magischer Kraft. Da ich weder an Prüfungsangst, Liebeskummer, noch an Migräne leide, verzichte ich auf eine spiritistische Sitzung. Curry – der Gaumenkitzel aus elf verschiedenen Gewürzen. Arganie – der Allroundbaum aus dem Zeitalter des Tertiär, dessen Öl, aus Samen gewonnen, gegen Hautkrankheiten, für Marinaden und die Schönheit taugt. Etwas taumelig, doch  mit Wissenszuwachs ausgestattet, verabschiede ich mich vom Wunderladen.
Das nächste Wunder kündigt sich an. Der Platz Djemaa-el-Fna, den die UNESCO 2001 als ersten Ort auf die Liste „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ setzte. Weit ausgebreitet, als hätten die engen Gassen der Souks die Tore aufgestoßen und den Überfluss ihrer Waren ans Licht geschwemmt, so liegt er vor mir. Buntheit und Lebendigkeit der Stadt erfahren hier ihren Höhepunkt.
Farbig geschmückt, mit Trommeln und Klappern den Rhythmus vorgebend, drehen sich die Gnawas im Kreise. Man merkt ihnen an, dass sie des Nachts Geister beschwören. Eine Schlange wird mir entgegen gehalten. Respektvoll lehne ich ab. Umringt von aufmerksamen Zuhören, erzählt ein alter Mann mit wohlklingender Stimme und sparsamen Gesten. Ist es ein Märchen? Affen treiben behände ihre Späße und animieren die Vorübergehenden zu einem Erinnerungsfoto. – Soll ich mir wahrsagen lassen? Eine Frau, in dunkle Gewänder gehüllt, winkt mich heran. Ich gebe ihr einige Dirhams. Sie dankt mit vielsagendem Lächeln und breitet die Arm aus. Das kann nur eine glückhafte Zukunft bedeuten. – Kutschen, mit edlen Rössern bespannt, lavieren zwischen den Ständen.
Die Nachmittagssonne tönt das große Rund rosarot. Kaum vorstellbar, dass hier das Leben erlöschen soll, wenn sie untergeht, wie Canetti den Platz erlebte, „bevor er einschlief.“
Zu den berühmten Gärten der Stadt, die sie durchziehen und umgeben. Ich wähle den „Jardin Majorelle“. Im Nordwesten, außerhalb der Stadtmauern, an der Rue Yves Saint Laurent gelegen. Ein Gartenkunstwerk, einem Kunstmärchen ähnlich. Botanische Miniaturen, die den Blick eines Malers verraten; Bildwerke, von einem passionierten Pflanzensammler gemalt. Die Gestaltung belebt ein Terrain, das nur einen halben Hektar umschließt. Und dennoch glaubt man sich auf einer Wanderung durch die Kontinente.
Schöpfer dieser Oase der Besinnung und des Staunens war Jacques Majorelle (1886-1962), Maler und Pflanzenliebhaber aus Nantes. 1917 besuchte er erstmals Marrakesch. Stadt und Landschaft gewannen ihn. Auf einem später erworbenen Grundstück begann er mit der Anlage seines Kunstgartens, den er 1947 dem Publikum öffnete. Nach Majorelles Tod verfiel das Wunderwerk… Bis Yves Saint Laurent (1936-2008), bekannter Couturier, das Malheur sah, den Garten kaufte, ihn wieder herstellen ließ und erweiterte.
Man betritt einen dunklen Bambuswald, geht über rote Wege und vorbei an gelben und blauen Gefäßen, aus denen Pflanzenfülle quillt. Gewächse von allen Erdteilen folgen einer Idee, die Struktur und Raum geschickt zu Bildern komponierte. Wasserbecken und Kanäle in Blau gefasst, Bougainvillea vor blauen Gittern. Das Kobaltblau mit der blickfangenden Leuchtkraft war wohl Majorelles Vorzugsfarbe. Er sah sie bei den Berbern im Süden des Landes, und übertrug sie in seinen Garten. Blaue Brücken, Fliesen in Blau, Fontänen, die in blauen Schalen springen. Der Maler ergänzte die Lieblingsfarbe durch Zitronengelb und Orange. Man ahnt, welches bunte Spiel sich zwischen Palmen, Kakteen, blühenden Büschen, Kletterpflanzen und Hängegewächsen entfaltet. Am Seerosenteich erinnert die Blütenpracht an Monets Gemälde. –
Ich verlasse die botanische Bildergalerie als ein hinzugewonnener Bewunderer der aufregenden Stadt.