16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Sächsischer Spaziergang

von Renate Hoffmann

Den berühmten Richard Wagner wollte ich in Graupa, einem Ortsteil von Pirna, besuchen und die berühmte Kamelie im Dresden-Pillnitzer Schlossgarten. – Wanderung von Heidenau elbabwärts an einem kühlen Morgen. Die Flusslandschaft liegt im feinen, bläulichen Herbstlicht. Um zum diesjährig hochgefeierten Jubilar Wagner zu gelangen, muss ich die Uferseiten wechseln. Bei Birkwitz holt mich der Fährmann übers Wasser. In dem kleinen Ort herrscht sonntägliche Stille. Nirgendwo ein Türschlag, kein Hundegebell.
Abgeerntete Felder, anglerbesetzte Teiche und das Ortsschild von Graupa. Chorgesang und Posaunenklang ertönen. Richard zu Ehren? Doch im Näherkommen stellen sich die Weisen als unwagnerisch heraus. Die Gemeinde feiert das Kirmes-Fest und zieht sonntäglich gekleidet zur Kirche.
In einem Park mit altem Baumbestand und den schönsten Ausblicken ins Land verbirgt sich das barocke Jagdschloss Graupa, ehemals fürstlich-wettinischer Besitz, und nunmehr würdige Bleibe der großen Schau „Richard Wagner in Sachsen“. – Noch liegt die Hand auf der Klinke der Eintrittspforte, und schon rauschen Wagnersche Tongewalten auf. Sie begleiten, an- und abschwellend, den Besuch. Man geht durch Leben und Werk des „Sachsen und Europäers“ Richard W., der Vorlieben für Hunde, Papageien, kostbare Stoffe und außergewöhnliche Farben besaß und ein gepflegtes Sächsisch sprach. Dem schöne Frauen als Musen dienten und betörende Düfte zur Inspiration. Der, nachdem er bereits einige Monate auf der Welt war, am 16. August 1813 in der Leipziger Thomaskirche die Taufe erhielt, und den der Tod in Venedig am 13. Februar 1883 ereilte. Komponist, Dirigent, Regisseur, Dichter, Dramatiker, Schriftsteller.
Zeitgeschehen, Personen und Ereignisse werden aufgetan, die den jungen Mann umgaben und seinen Werdegang prägten. Da sind die Mitstreiter und Freunde – wie Gottfried Semper – die ihm in den Tagen des Dresdner Mai-Aufstandes 1849 zur Seite standen, ihm, dem steckbrieflich verfolgten Königlich-Sächsischen Hofkapellmeister. Gesucht „wegen wesentlicher Theilnahme an der in hiesiger Stadt stattgefundenen aufrührerischen Bewegung.“ Aber nicht gefunden, da ihn Franz Liszt in Weimar längst aufgenommen hatte. Und wie sah er derzeit aus, der Revoluzzer? Laut Steckbrief: „Wagner ist 37-38 Jahre alt, mittler Statur, hat braunes Haar und trägt eine Brille.“
Da sind auch die Gönner – bis hinauf zur königlich-bayerischen Ebene. Und die Interpreten, die seine Opernwelt zum großen Klangerlebnis führten. Sang doch die gefeierte Schröder-Devrient, Sopranistin mit der „wahrhaft weiblichen Seele“, die Glanzpartien in den Uraufführungen von „Tannhäuser“ und dem „Fliegenden Holländer“. Der Komponist himmelte sie an.
Was Wagner bewegte, war vor allem die Übereinstimmung von Wort und Ton, denn auch im Wort wohnen Musikalität und Rhythmus. Sie angemessen in Klänge zu wandeln, mühte er sich bei der Auswahl und eigenen Erarbeitung der Libretti.
Die Opernwerke des Herrn Wagner kann man in Ausschnitten erleben. Dreidimensional, in der Einheit von Raum, Ton und Spiel – auf Knopfdruck. Ich wähle den „Fliegenden Holländer“. Blitz und Donnerschlag, wogende Wellen (unwillkürlich trete ich einen Schritt zurück), das Schiff mit dem Totenkopfsegel schwankt beträchtlich; Sankt Elms-Feuer sprüht. Ich frage mich, wie lange die norwegischen Seeleute in dieser grausligen Stimmung noch singen werden: „Steuermann, lass die Wacht!“ (Halt die Wacht! wäre, wetterbedingt, vernünftiger gewesen.)
Es fehlt nicht an ausführlichen Kommentaren zum Komponisten. Sie reichen von Ablehnung bis zu Lobeshymnen. Martin Gregor-Dellin brachte sie auf den Punkt: Wagner, „das Genie des Widerspruchs.“ Dazu gehören auch in gewissem Maße sein abstruser Geschmack und die Verschwendungssucht. An Bertha Goldwag, Putzmacherin, ergeht die Bestellung von: einem Schlafrock mit Daunen gefüttert, aus rosafarbenem Atlas; außerdem Rosengirlanden, Stiefel und Kissen mit Rosenbouquets; Spitzen, Atlas in elf Farben und weiteres … macht zusammen 3000 Gulden. Wagner rechtfertigt sich in einem Brief an Freund Liszt: „(Ich) bin ein großer Verschwender, aber wahrlich, es kommt etwas dabei heraus.“
Und was die Wagnerschen Hunde angeht, so nahmen sie Anteil am kompositorischen Schaffen des Meisters. Peps, der Cavalier-King-Charles Spaniel saß auf einem Taburett neben dem Flügel. Sein Herr, beschäftigt mit der Motivsuche zu „Tannhäuser“, fand mit Pepsens Hilfe heraus, dass für die Szenen natürlicher Liebe E-Dur und für diejenigen der göttlichen Liebe Es-Dur die geeigneten Tonarten seien. Welch ein Hund! Diese außergewöhnlichen Fähigkeiten hatten sich bis nach England herumgesprochen. Als Queen Victoria im Sommer 1855 Wagner auf Schloss Windsor empfing, fragte sie diplomatisch zuerst nach Peps, dem Hund, erst dann nach Richard, dem Herrn.
Wagner in Graupa. Weshalb? Mit Hund und Frau mietete er sich im Mai 1846 in dem kleinen Ort ein. Im Schäferschen Gehöft. Seine Dresdner Direktion hatte ihm einen dreimonatigen Urlaub und 5000 Taler Vorschuss gewährt. „Gott sei Lob, ich bin auf dem Lande, drei Stunden von Dresden, in der reizendsten Gegend der Sächsischen Schweiz. [ … ] Ich bin der erste Städter, der sich hier eingemiethet hat.“ Dem befreundeten Louis Spohr teilt er mit: „Nach einem widerlich verlebten Winter athme ich auf, und mit solchem Eifer suche ich die Stadt, das winterliche Musikmachen, Theater, Oper pp. zu vergessen.“ Es gelang ihm. Und flugs wandte er sich der nächsten Aufgabe zu. Dem „Lohengrin“. Die Musik „sämmtlicher drei Akte“ wurde in dieser „reizendsten Gegend“ skizziert. – Deshalb begegnet man Wagner in Graupa, nicht weil er der erste Großstädter war, der sich hier eine Ferienwohnung nahm.

Der Nachmittag gehört der Camellia japonica. Durch die Weinberge nach Pillnitz. Die letzten milden Tage locken Dresdner und Auswärtige in den Schlosspark. Durch Laubengänge und Besucherscharen gehe ich auf die Suche nach der „Kameliendame“. Zuerst ein wenig in die Irre geleitet, finde ich sie dann in der Nähe der Orangerie. Die stattliche Uralte mit der einige Rätsel aufgebenden Vergangenheit. Ihre Blühzeit ist längst vorüber, doch sie wirft das dunkelgrüne, glänzende Blattwerk nicht ab und bleibt eine Bewunderung fordernde botanische Rarität. Wenn sie zwischen Februar und April in Blüte steht, steckt sie zehntausende karminroter, ungefüllter Röschen auf ( bis zu 35.000 können es werden – wer die nun wieder gezählt hat … ).
Sie besitzt ein eigenes Gehäuse. Nach verschiedenen Vorbauten gehört ihr jetzt ein Glashaus. Verschieb- und begehbar. Von Oktober bis Mitte Mai schützt man sie darin vor Kälte. Danach zeigt sie ihre dendrologische Pracht wieder im Freien. – Noch steht die gläserne Konstruktion neben dem Kamelienbaum, doch wartet sie schon auf die Verschiebung.
Die „Pillnitzerin“ bedarf ihres hohen Alters von mehr als 200 Jahren und ihrer rühmlichen Vergangenheit wegen besonderer Pflege. Zur Förderung der Wuchsfreudigkeit erhielt sie „nach dem Trieb ein ziemliches Fass Kuhjauche; was ihr sehr behagte.“ Dieses Verfahren liegt jedoch einige Jahre zurück und ist, meines Wissens nach, eingestellt.
Wahrscheinlich kam die sächsische Camellia japonica zwischen 1780 und 1790 nach Dresden. Erst im Mai 1801 verbrachte sie der spätere Hofgärtner Carl Adolph Terscheck nach Pillnitz. Und da sie nicht gestorben ist, was beinahe durch einen Brand geschehen wäre, steht sie noch heute an dem Platze, den Terscheck ihr aussuchte. Nun darf sie sich als die älteste Kamelie nördlich der Alpen verstehen.
Die Ausmaße des schönen Gehölzes lassen staunen. Höhe: 8,90 Meter; Durchmesser: 11 Meter; Umfang: über 33 Meter. Und wohlgeformt vom Grund bis in den Wipfel. Die Herkunft der „Pillnitzerin“ bleibt verborgen und erlaubt es, Histörchen mit Wahrheitstropfen vorzutragen. Den glaubwürdigsten Bericht gab ihr Ziehvater Terscheck. Nach ihm soll der schwedische Arzt, Naturforscher und Schüler Linnés Carl Peter Thunberg (1743-1828) von seinem Japanaufenthalt vier Kamelien nach Europa mitgebracht haben. Je ein Exemplar wäre nach den Kew Gardens bei London, Schönbrunn bei Wien, Herrenhausen/Hannover und Sachsen gelangt. Kann sein, kann nicht sein …
Ich betrachte die Stolze. Nicht lange mehr, dann wird sie ihre Blüten verschwenden und im roten Kleid bezaubern. Wer soviel Schönheit auf sich vereint, der darf auch sein Geheimnis haben.