16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Kritik neoliberaler Vereinigungspolitik

von Ulrich Busch

Die bevorstehenden großen Jubiläen, der 25. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR und der 25. Jahrestag des Vollzugs der deutschen Einheit, werfen bereits heute ihre Schatten auf dem Büchermarkt voraus. Dabei zeichnen sich gegenüber früher einige bemerkenswerte Veränderungen ab: Zum einen verschiebt sich das Spektrum der literarischen Bewältigung der historischen Ereignisse von vormals überwiegend biografisch geprägten und anekdotischen Erinnerungen hin zu sachlich begründeten ökonomischen und soziologischen Analysen. Zum anderen verändert sich der Tonfall: Die politisch motivierte Verklärung der DDR und der alten BRD sowie die Larmoyanz bei der Beschreibung der Transformationsprozesse sind im Rückgang begriffen. Auch lässt die Rhetorik des Kalten Krieges allmählich nach. Stattdessen ist man um ein hohes Maß an Objektivität bei der Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte bemüht. Dies gilt in besonderem Maße auch für das vorliegende Buch des Berliner Wirtschaftswissenschaftlers Hans Mittelbach.
Der Autor entzieht sich der Versuchung, eine letztlich immer unvollkommen bleibende Gesamtdarstellung des Vereinigungsprozesses zu liefern, indem er sich auf die Einkommensproblematik konzentriert. Diese wird von ihm dafür aber umfassend und in aller Breite ausgeführt. Nach einem einleitenden Kapitel zur Währungsunion 1990, der entscheidenden Weichenstellung für die weitere Entwicklung im Vorfeld der staatlichen Vereinigung, widmet sich der Autor der Analyse der Entwicklung der Lohn- und Kapitaleinkommen in Deutschland seit 1990. Dabei berührt er auch Fragen der Wertschöpfung und deren Messung, der Preisbildung, der Geldschöpfung und der Wirtschaftslenkung. Von zentraler Bedeutung für seine Argumentation ist die Kritik der Umverteilung des ostdeutschen Produktivvermögens im Privatisierungsprozess durch die Treuhandanstalt. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Steuerung und Förderung von Investitionen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Investitionen für die Generierung von Einkommen ausschlaggebend sind.
Die Lohn- und Einkommenspolitik seit 1990 wird von dem Autor, politisch periodisiert, ausführlich dargestellt und kritisch kommentiert. Dies gilt auch für die Familien- und Renteneinkommen, deren Entwicklung sachkundig beschrieben und statistisch gut aufbereitet wird. Die Lektüre dieser Abschnitte sei vor allem jenen ans Herz gelegt, die gerne über Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen bei der Einkommensentwicklung debattieren, dafür aber nicht immer über geeignetes Datenmaterial verfügen. Das Buch könnte hier Abhilfe schaffen.
Bei der Abfassung der einzelnen Kapitel orientierte sich der Autor vor allem an den Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dies verleiht seiner Arbeit inhaltliche Stringenz und methodische Geschlossenheit.
Durch das Studium der Texte wird man in die Lage versetzt, einige der Paradoxa, die den Vereinigungsprozess kennzeichnen, besser zu verstehen. So wird evident, dass sich die Einkommen im Osten im Zeitverlauf spürbar erhöht haben und die Lebensqualität im Vergleich zur DDR deutlich gestiegen ist. Gleichzeitig wird aber auch gezeigt, dass dieser Anstieg zunehmend hinter der Entwicklung in den westdeutschen Ländern zurückbleibt und es deshalb nicht zu einer Konvergenz beider Teilregionen kommt. Die Schere schließt sich nicht, nicht nach zehn Jahren staatlicher Einheit, nicht nach 20 Jahren und auch nicht nach 25 Jahren. Es wird auch in den nächsten 20 oder 30 Jahren nicht mit einer vollständigen Angleichung der regionalen Einkommen und Vermögen in Deutschland zu rechnen sein. Die Ursachen hierfür sind ökonomischer und politischer Natur. Dies nicht zu bejammern, sondern analytisch aufzuzeigen, ist ein Vorzug des Buches. Die zahlreichen Tabellen, Abbildungen und Übersichten erleichtern das Verständnis der nicht immer ganz einfachen Problematik.
In einzelnen Kapiteln bietet das Buch einen merkwürdigen Mix aus Theorie, Ideologie, Politik und Deskription. Dies zeigt sich bereits im Untertitel, wo die Kritik „neoklassischer“ Theorie neben die Kritik „neoliberaler“ Ideologie gestellt wird, ohne beides klar voneinander abzugrenzen. Eine derartige Abgrenzung wäre jedoch für eine wissenschaftliche Kritik zweckmäßig gewesen, denn die wirtschaftliche Realität widerspiegelt niemals die (reine) Theorie, sondern ist immer Ergebnis der Politik. In welchem Maße dies jeweils durch eine entsprechende Ideologie vernebelt oder unterstützt wird, ist eine andere Frage und sollte deshalb gesondert behandelt werden. Bezieht sich die Kritik auf die Realität, wie bei Hans Mittelbach, so kritisiert sie vor allem die Resultate der Politik, welche zudem ideologisch verbrämt sind. Eine Kritik der Theorie dagegen ist das nicht. Eine solche müsste theoretisch erfolgen, durch Konfrontation der einen Theorie mit einer anderen, durch logische Widerlegung und so weiter. Die Konfrontation der Praxis mit einer bestimmten Ideologie, wie sie zum Beispiel der Neoliberalismus verkörpert, vermag dagegen den Anspruch einer Theoriekritik nicht einzulösen. Was das Buch leistet, ist folglich weniger eine Kritik neoklassischer theoretischer Modelle als die Kritik neoliberaler Politikmuster und deren praktischer Folgen. Die diesbezüglichen Schwächen (zum Beispiel im Kapitel 3) mindern den Gesamtwert der Lektüre aber nur unwesentlich.
Neben der Hauptlinie der Darstellung, der kritischen Analyse des Transformationsprozesses in Ostdeutschland, enthält das Buch auch einzelne Abschnitte zur DDR-Ökonomie, faktisch Rückblicke und Überlegungen zu einer komparativen Betrachtung möglicher Alternativen. So zum Beispiel die Abschnitte „Vertane Chancen bei der Gestaltung des Wirtschaftssystems der DDR“ und „Fördermittel nicht als Geschenke vergeben“. Die hier vorgestellten Konzepte spielten in der politischen Diskussion eine bestimmte Rolle, konnten sich im praktischen Prozess aber nicht durchsetzen. Das angefügte Literaturverzeichnis vermittelt einen Überblick über die benutzten Quellen. Was fehlt, ist ein Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen, das dem Nutzer des Buches einen selektiven Zugriff auf einzelne Darstellungen erleichtert hätte.

Hans Mittelbach: Lohn- und Kapitaleinkommen in Deutschland 1990 bis 2010. Zur Kritik neoklassischer und neoliberaler Modelle, PapyRossa Verlag, Köln 2013, 590 Seiten, 36,00 Euro.