16. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2013

Géricault oder die Leiden und Qualen des modernen Menschen

von Klaus Hammer

Eigentlich war  das Werk Théodore Géricaults bisher auf drei seiner im Louvre befindlichen Bilder ausgerichtet: den „Offizier der Jäger der Kaiserlichen Garde beim Angriff“ (1812), „Der verletzte Kürassier zieht sich aus dem Gefecht zurück“ (1814) und – wohl am bekanntesten – „Das Floß der Medusa“ (1819). Das erste, der „Kavallerieoffizier“, ein heroisches Reiterporträt, zeigt Pferd und Reiter in imponierender Pose, wobei ein Kontrast wahrnehmbar ist zwischen dem zum Sprung ansetzenden, sich wild aufbäumendem Pferd und dem in unerschütterlicher Ruhe im Sattel sitzenden Offizier, der sich zudem noch zurückwendet, um das Schlachtgeschehen zu überblicken. Hier wird einer der heldischen Soldaten der Grande Armée Napoleons auf deren unaufhaltsamem Vormarsch konterfeit. Sein Pendant ist „Der verletzte Kürassier“, der den Untergang der napoleonischen Armeen symbolisiert. Unter einem drohenden Wolkenhimmel führt der Soldat, furchtsam hinter sich schauend, sein kaum zu bändigendes Pferd vom Schlachtfeld. Die im Titel genannte Verletzung ist wohl als psychisch erlittene Schmach zu deuten – die Erniedrigung in der Niederlage.
„Das Floß der Medusa“ gilt als Hauptwerk Géricaults und kann als dessen Willenserklärung gegen die französische Kolonialherrschaft und für die Abschaffung der Sklaverei verstanden werden. 1816 war die französische Flotte mit der Fregatte „Medusa“ an der Spitze aufgebrochen, um die westafrikanische Kolonie Senegal wieder in Besitz zu nehmen – und das schloss auch die Wiederaufnahme des Sklavenhandels mit ein. Der Kapitän der „Medusa“ hatte aber sein Schiff auf eine Sandbank vor der westafrikanischen Küste gesetzt. Das Floß, auf dem sich die Schiffsbrüchigen zusammendrängten, blieb steuerlos seinem Schicksal überlassen. Auf ihm spielten sich die schrecklichsten Szenen ab, die bis zum Kannibalismus führten. Géricault fertigte drei Jahre später im Atelier viele Studien nach Modellen an, befragte die wenigen Überlebenden, baute das Floß der Medusa nach, studierte im Leichenschauhaus die verschiedenen Farbveränderungen der Leichen, die er auf seinem Bild platzieren wollte. Viele seiner Zeichnungen orientierten sich an Figuren aus Werken großer Meister wie Rubens, Michelangelo, Caravaggio oder Raffael. So entstand schließlich ein Bild der Verzweiflung, des Grauens und des Todes, gepaart aber mit Hoffnung und Wiederauferstehung. Denn Géricault zeigt genau den Augenblick, wo weit hinter den Wogen, umgeben von einer Aura strahlender Helligkeit, das verheißungsvolle Weiß eines Segels erscheint. Und der von hinten gesehene farbige Mann an der Spitze der Menschenpyramide auf dem Floß kann durch seine herausgehobene Stellung als Sympathiefigur Géricaults angesehen werden.
Alle drei Werke, mit denen der Maler eine Erneuerung der Historienmalerei anstrebte, die sich in der Rückkehr zum Individuum, zu Charakteren offenbarte, die Zeugnis von ihren menschlichen Reaktionen ablegen, sind nicht leihfähig, und die gegenwärtige Frankfurter Géricault-Ausstellung, die erste Einzelausstellung in Deutschland überhaupt, muss auf sie verzichten. Dafür aber kann sie mit einer Vielzahl von weithin unbekannten Studien, Zeichnungen, Lithografien, Radierungen und Gemälden aufwarten, die unsere Kenntnis des Werkes intensivieren und verbreitern helfen. Sie demonstrieren Géricaults neuartigen, beobachtenden Blick auf das Schicksal des modernen Menschen. Zudem treten die 62 Werke Géricaults in einen Dialog mit thematisch verwandten Arbeiten von Francisco de Goya, Eugène Delacroix oder Adolph Menzel – Géricaults  künstlerische Position wird als europäisches Phänomen präsentiert.
Bei Géricault handelt es sich um ein Leben und Schaffen in Extremen. Bereits mit 32 Jahren – 1824 – an den Folgen eines Reitunfalls gestorben, blieb sein Werk ein Torso. Die kurz bemessene Spanne seines Lebens fiel in die Epoche der Revolution, der Ära Napoleons und seines Kaiserreiches bis hinein in die Jahre der Restauration und des Bourbonenkönigtums. Seine intuitive Einfühlungsgabe und grenzenlose Offenheit für alle Eindrücke erklären zu einem großen Teil die erstaunliche Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Motive, die Ungebundenheit in seiner Kunst.
Géricault zeigt Pferde in ihrer ganzen ungeheuren Vielfalt. Es sind Variationen eines  einzigen Motivs, alle diese Pferde, die nach und nach in seinem Werk entstehen. Er zeigt es kämpfend, leidend, sterbend und sogar jenseits des Todes, geborsten, aufgedunsen, Aas geworden. Géricault stellt das Drama des Rückzugs der französischen Armee dar: verendete Pferde, die verlassen auf wüsten Schlachtfeldern liegen. Und der Soldat erscheint ihm nicht mehr als stolzer Reiter, er sieht ihn nur verwundet, blutend und erschöpft. Auf einem Karren sitzt ein Häuflein solcher Jammergestalten in Uniform, ein verwundeter Krieger kehrt auf seinem lahmenden Gaul zurück. Géricault malt die toten Menschenleiber, die krepierten Pferde, den ganzen traurigen Schutt der kaiserlichen Armeen.
Dazu kommen männliche Akte, anatomische Studien von Körpern und Körperteilen, abgeschnittene Köpfe, Studien von Geköpften. Das Entsetzliche, der tote, zerstückelte Körper, mitunter wie zu einem Stillleben arrangiert – ging es Géricault hier um den Ausdruck des Schreckens oder um den ungeheuerlichen Kontrast, der daraus entsteht, wenn das, was eben noch lebendig war, nun für immer tot sein soll? Der Wahrheit des Schreckens wollte er durch künstlerische Mittel wie die fahle Farbigkeit der Leiber und Köpfe näherkommen. Die Mehrzahl seiner Studien sind aber nicht der Anatomie oder der Vorliebe für das Morbide gewidmet, sondern der Darstellung von unversehrten Körpern – sie sind also dem Leben zugekehrt.
Géricault hat das lithografische Medium den Ölgemälden gleichgestellt. Während seines England-Aufenthalts wurden von ihm soziale Randexistenzen, Bettler, Arme, Kranke, Straßenmusikanten zu emblematischen Figuren verdichtet. „Niedere“ Sujets hat er zu Allegorien menschlicher Existenz erhöht, so in der Lithografie mit dem appellativen Titel „Habe Mitleid mit den Schmerzen des alten Mannes, dessen schlotternde Glieder ihn vor deine Tür gebracht haben“ (1821). Niemand beachtet ihn, weder die Frau, die sich in der Bäckerei mit einem Kunden unterhält noch die Passanten auf der Straße.
Schließlich die „Irrenporträts“, zu denen ihn wohl der Freund  Etienne-Jean Georget, Arzt am Pariser Hopital de la Salpetrière, beauftragt hatte. Sie scheinen ganz bewusst als pathologische Analysen gedacht zu sein, als präzise Studien, in die die Kunst ganz von selbst einfloss. Der erste in der Reihe der fünf erhalten gebliebenen Bilder (alle 1819/20 oder 1822/23) ist der „Monomane des militärischen Größenwahns“. Seine Augen sind es, die den Irren verraten: der unstete Blick flieht, vermag nicht zu fixieren. Dieselben ungreifbaren und zugleich lauernden Augen blicken aus dem Gesicht des „Monomanen des Diebstahls“. Dieser grausame Zug um den Mund, die bleichen, perversen Züge zwischen dem schwarzen zerzausten Haar und dem zerknitterten weißen Kragen sind ein Alptraum, der immer wiederkehrt. Der „Monomane des Kindsraubs“ wirkt eher sonderbar als Angst einflößend, wären nicht die weitgeöffneten Pupillen, hinter deren weichem, ja zärtlichem Ausdruck ein höchst beunruhigendes Licht aufflackert. Die Frauen sind noch schrecklicher als die Männer. So die „Monomanin des Neides“. Es gibt nichts Grausameres als die Züge dieser Alten, reißend wie ein wildes Tier unter ihrer biederen Haube und ihren Halstüchern. Der „Militärische Monomane“, der in Frankfurt nicht gezeigt werden kann, wird ersetzt durch ein „Bild des Bildnisses“ (2013), mit der die in Amsterdam lebende südafrikanische Künstlerin Marlene Dumas einen zeitgenössischen Kontrapunkt zu den Monomanen Géricaults schuf.
Romantische Schule und radikaler Realismus treffen in Géricaults Werk zusammen.

Géricault. Bilder auf Leben und Tod, Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M., bis 26. Januar; Katalog 29,80 Euro.