16. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2013

Wann wir schreiten Seit an Seit…

von Fritz E. Gericke

Es war einmal vor langer Zeit, so fangen die meisten Märchen an. Für die Jungen ist es in der Tat ein „Es war einmal vor langer Zeit“, wenn sie Bilder sehen oder Berichte hören, wie gestandene Männer und Frauen sich zum Teil mit Tränen in den Augen an den Händen hielten und sangen: „Wann wir schreiten Seit an Seit… “ Es waren Menschen, die Zeiten des Terrors und des Krieges überlebt hatten. Sie waren im Krieg gewesen, hatten die Bombardierungen der Städte miterlebt, hatten in Zuchthäusern oder Konzentrationslagern gelitten, weil sie sich aufgelehnt hatten gegen ein Schrecken, Not und Elend verbreitendes Terrorsystem. Sie alle wollten eine „neue Zeit“. Für  die Jüngeren liegt diese Zeit genauso weit zurück, wie für uns damals die Ermordung Rathenaus, die Inflation oder der Erste Weltkrieg. Doch uns haben dieses Lied und der Anblick dieser Menschen guten Willens Schauer freudiger Erregung der Hoffnung über den Rücken gejagt.
Heute singen die gutsituierten Genossen noch immer dasselbe Lied, wieder halten sich Männer und Frauen an den Händen, doch keine Träne rinnt, der Schauer freudiger Erregung bleibt schon in den Haarwurzeln oder den Speckfalten des Nackens hängen. Manch einer lächelt ein wenig, „es wird schon gut gehen“, andere machen ein trotziges Gesicht, das sieht dann kämpferisch aus, hat aber womöglich seine Ursache im flüchtigen Blick auf die teure Rollex: „Was denn, schon so spät, dabei wollte ich doch heute pünktlich zuhause sein.“ Und immer dann erwacht in mir das Verlangen in die Köpfe dieser Menschen gucken zu können. Ich war schon als Kind extrem neugierig. In der Küche zog ich mir einen Schemel vor den Herd, damit ich groß genug war, um in den Topf schauen zu können. Ich wollte wissen, was da brodelte, was sich da zusammenbraute, was das für ein Süppchen war, das man mir da einbrockte, und das ich später einmal auslöffeln sollte. Aus den Töpfen sind nun Köpfe geworden, aber noch immer habe ich keinen Schemel gefunden von dem aus ich sehen könnte, was da brodelt und sich zusammenbraut.
Die Genossen, die das erwähnte Lied gerade noch mehr oder weniger schön intonierten, haben beschlossen mit der CDU/CSU in Koalitionsverhandlungen einzutreten. „Die Genossen haben beschlossen“, so schön sich das auch reimen mag, ich selber finde  da keinen Reim drauf. Sie wollen also den vor sich hin dümpelnden schwarzen Kahn besteigen, und Mutti Kapitän helfen, dem Dampfer Dampf zu machen. Wie gesagt, ich bin ein alter Knochen ich habe schon viele bei diesem Versuch über Bord gehen sehen, Helfer und solche, die es gern geworden wären: die DP = Deutsche Partei, das Zentrum, eine konservativ christliche Partei, die Bayern Partei, die GB = Gesamtdeutsche Partei, den Bund Heimatvertriebener und Entrechteter und nun auch die FDP = die Freie Demokratische Partei, die nach einem sensationellen Erfolg in den Abgrund stürzte. Lässig zurückgelehnt vernachlässigte sie vor lauter gutem Willen gegenüber den finanziellen Interessen einer kleinen Gruppe von Unternehmern die berechtigten Interessen der meisten ihrer Wähler, und die waren eben nicht nur finanzieller Art. Das allein selig machende Glaubensbekenntnis der FDP, der Markt würde schon alles richten, wenn man ihn nur in Ruhe ließe, hatte für viele Menschen, auch für FDP-Wähler böse Folgen. Sie wurden nicht mehr gebraucht, und nun wird die FDP nicht mehr gebraucht, obwohl sie noch gebraucht würde, wenn sie sich wenigstens in der Zeit des Abstiegs auf die eigentliche Aufgabe liberaler Politik besonnen hätte: Wahrung der rechtsstaatlichen Prinzipien und Wahrung der Bürgerrechte.
Aber hier geht es nicht um bereits Untergegangene, sondern um die noch Lebenden, die sich nunmehr ernsthaft bemühen, trotz eigener schlechter Erfahrungen Seit an Seit mit der jahrzehntelang bekämpften CDU/CSU auf breitester Front in die neue Zeit zu marschieren. Dabei übersieht man unverkennbare Ähnlichkeiten, mit den Parlamenten untergegangener Systeme, die mehr oder weniger bequem ohne Opposition auskamen.
Ganz richtig ist das natürlich nicht, was ich hier schreibe, man hat schon erkannt, dass die am Rande der großen Koalition dahinwelkende Opposition rechtlich keine Möglichkeiten mehr hat einzugreifen und deshalb will man ihr auch ein Geschenk machen: Das Quorum für die Einberufung eines Untersuchungsausschusses soll gesenkt werden, damit die beiden Oppositionsparteien gemeinsam zum Beispiel einen Untersuchungsausschuss fordern könnten.
Ein Danaergeschenk, das, wenn es nicht aus Dummheit oder Leichtfertigkeit angeboten wurde, an Zynismus nur schwer zu übertreffen ist. Betroffen sind davon zunächst einmal die Grünen, die gezwungen wären mit den von allen Seiten geschmähten Linken zusammenzuarbeiten, so dass bei den nächsten Wahlen auf die gezeigt würde: „Die machen mit den Linken gemeinsame Sache, die darf man unter keinen Umständen wählen.“ Arbeiten sie jedoch nicht mit den Linken zusammen, bleiben sie mit ihren 63 und die Linken mit ihren 64 Sitzen absolut wirkungslos. Letztendlich aber trifft es den Parlamentarismus direkt, denn das Parlament begibt sich damit endgültig seiner Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren. Die Nationale Front lässt grüßen.
Der Frust der Grünen ist verständlich, unverständlich aber ist, warum die neue Führung dem ehemaligen Wunschpartner, mit dem man eine neue Politik einleiten wollte, jetzt schnell noch einen dicken Knüppel zwischen die Beine wirft und, nachdem die eigenen Verhandlungen mit der CDU/CSU zu keinem Erfolg  führten, verkündet: „Hallo CDU, wenn das mit der SPD nicht klappt, denkt bitte dran, dass wir uns doch ganz nett unterhalten haben. Wir haben nicht ‚Nein’ gesagt, sondern nur ‚Jetzt noch nicht’“. Schlimmer geht’s nimmer.
Dass die SPD ein so schwaches Wahlergebnis erzielt hat, lag nicht an der Trägheit der Wähler, die zweifellos vorhanden ist. Die Schuld lag vor allem im Verhalten der Partei selbst. Das einen gemeinsamen Willen bekundende „Wann wir schreiten Seit an Seit“ galt, zumindest zu Beginn des Wahlkampfes, nicht für den SPD-Spitzenkandidaten, und die Verantwortung dafür trägt der Mann, der sich nun anschickt Vizekanzler zu werden. Der Erzengel sei mit ihm.
Ich bin nicht Cassandra und auch nicht ihr Urururenkel, aber den Weg, den die SPD einzuschlagen bereit zu sein scheint, verheißt mir kein gutes Ende. Geht die SPD in die Große Koalition, wird sie selbst Schaden nehmen. Ihr werden, wie schon einmal, Wähler und Mitglieder davonlaufen und mit ihnen wohl auch der eine oder andere Abgeordnete.
Andere Länder haben Minderheitsregierungen gut verkraftet. Eine starke Opposition ist allemal besser als eine behäbige, unbehelligte Regierung. Angela Merkel wurde mit großer Mehrheit gewählt, gebt ihr die Chance zu regieren, aber marschiert nicht mit ihr im Gleichschritt Seit an Seit.