16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Vom Starken des Schwachen

von Frank Ufen

Zwei Gegner stehen einander in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüber. Der eine ist ein weit über zwei Meter großer professioneller Krieger, er ist mit einem Schwert, einem Spieß und einem Speer ausgerüstet, und er trägt eine aus Bronze angefertigte Rüstung, die aus einem schweren Helm, einem Schuppenpanzer und Beinschienen besteht. Der andere ist ein Hirtenjunge, der ohne jede Rüstung auskommen muss und der über keine anderen Waffen verfügt als seinen Hirtenstab, eine Schleuder und einige Kieselsteine.
Allem Anschein nach ist der Hirtenjunge, der David genannt wird, seinem Gegenspieler Goliath hoffnungslos unterlegen. Doch David trifft mit einem Steingeschoss Goliaths Stirn und schlägt dem bewusstlosen Riesen den Kopf ab. In den Augen des britisch-kanadischen Wissenschaftsjournalisten und Bestsellerautors Malcolm Gladwell lässt sich dieser mysteriös anmutende Ausgang des Duells schlüssig erklären. So hätten die Stärken Goliaths in erster Linie im Nahkampf gelegen, doch sich auf einen Nahkampf einzulassen, habe David wohlweislich vermieden. Außerdem sei Davids Steinschleuder eine höchst effiziente Waffe gewesen, deren Geschosse sogar die Geschwindigkeit von Revolverkugeln hätten erreichen können. Und schließlich würde vieles darauf hindeuten, dass Goliath sehbehindert gewesen sei. Vermutlich habe er unter Akromegalie gelitten – einer Überproduktion des Wachstumshormons, die häufig eine schwere Schädigung des Sehvermögens nach sich zieht.
David Boies liest höchstens ein Buch pro Jahr, denn für ihn ist das Lesen von Texten eine extrem mühsame und anstrengende Angelegenheit. Er spricht etliche Wörter falsch aus, und wenn er auf ein Wort stößt, das er noch nicht kennt, spricht er es Buchstabe für Buchstabe aus. Boies ist Legastheniker. Doch trotz dieser Behinderung hat er Jura studiert und sein Studium abgeschlossen, und schließlich hat er es sogar geschafft, zu einem der renommiertesten Strafverteidiger der Vereinigten Staaten aufzusteigen.
Doch in Wahrheit – behauptet Gladwell – hat Boies nur deswegen Karriere gemacht, weil er genötigt war, seine Schwächen wettzumachen und sie in Stärken zu verwandeln. Boies habe nämlich von Anfang an nach Mitteln und Wegen gesucht, die es ihm ermöglichten, mit immer weniger Lektüre auszukommen. Dadurch habe er gelernt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, zu einem äußerst aufmerksamen Zuhörer zu werden und sämtliche Einzelheiten von sprachlichen Äußerungen im Gedächtnis zu behalten. So sei es ihm gelungen, ein Virtuose in der Kunst zu werden, Zeugen zu befragen und auf Richter und Geschworene rhetorisch einzuwirken.
Warum ist die gängige Auffassung falsch, dass Kinder desto besser lernen, je kleiner die Schulklassen sind, in denen der Unterricht stattfindet? Warum ist es oft keine gute Idee, statt an einer guten zweitklassigen Hochschule an einer Ivy League-Universität zu studieren? Warum kam es während des II. Weltkriegs in London kein einziges Mal zu einer Massenpanik, obwohl diese Stadt acht Monate lang von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde? Und wie konnten die Einwohner des winzigen Bergdorfes Le Chambon-sur-Lignon zur Zeit des Vichy-Regimes Hunderte jüdischer Flüchtlinge verstecken oder auf Schleichwegen in die Schweiz bringen?
Als die französischen Impressionisten sich anschickten, das Feld der Malerei zu revolutionieren, machte ihnen die Jury des Salon de Paris, der damals bedeutendsten Kunstausstellung überhaupt, arg zu schaffen. Jeder Maler, der für ein Bild, das im Salon präsentiert wurde, mit einer Medaille ausgezeichnet wurde, konnte damit rechnen, reich und berühmt zu werden. Allerdings verlangte die Jury von ihm, sich ihren rigorosen klassizistischen Normen bedingungslos zu unterwerfen. Nach langen Auseinandersetzungen beschlossen die impressionistischen Maler, radikal mit den Regeln des Salons zu brechen und selbst eine Ausstellung auf die Beine zu stellen. Eine Jury gab es nicht mehr. Damit hatten die Impressionisten doch noch gewonnen.
Die Starken und Mächtigen, verkündet Gladwell, sind längst nicht so stark und mächtig, wie sie wirken. Hingegen könnten diejenigen, die Herausforderungen wie Behinderungen, Schicksalsschläge oder Repressionen jeder Art zu bestehen hätten, unter bestimmten Umständen ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten entwickeln und dadurch die Oberhand gewinnen, dass sie innovative Strategien erproben würden. Leider unterlässt es Gladwell, diese Umstände genauer zu bestimmen. Man kann ihm außerdem vorwerfen, nur Forschungsergebnisse zu berücksichtigen, die seine Leitgedanken bestätigen. Trotzdem: Eines der anregendsten und erhellendsten Bücher der letzten Zeit.

Malcolm Gladwell: David und Goliath. Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2013, 256 Seiten, 19,99 Euro.