16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Querbeet (XXXIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Holzpferde, Horror mit Herz, VIP-Veteranen und eine Träne im Sturm.

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Ob für den Musicalkonzern Stage Entertainment das Glück wirklich ausgerechnet auf dem Rücken der Pferde liegt, sei hier arg bezweifelt. Auch wenn sich die liebenswerten Vierbeiner in der neuesten Stage-Produktion höchst lebhaft auf der Bühne tummeln. Dabei sind sie aus Holz, Leder, Baumwolle, Bambus. Sind raffiniert gefertigte, von perfekt trainierten Spielern wundersam zum Leben erweckte Tierpuppen aus der fantastischen Werkstatt der südafrikanischen Handspring Puppet Company. Und diese artifiziellen Kostbarkeiten spielen die Hauptrolle im englischen „Theater“-Musical „Gefährten“. Deutsche Erstaufführung war jetzt im Berliner Theater des Westens, dem Flaggschiff des unterhaltenen Großkonzerns, das nicht eben leicht zu steuern ist. Weil: Die Hauptstadt platzt vor konkurrierendem Entertainment.
Und nicht allein deshalb wird es die Novität schwer haben. Weil: Die kunstvollen Vierbeiner sind nicht abendfüllend. Alsbald schon hat sich das Repertoire ihrer Kunststücke erschöpft. Und was weiter? – Das Weitere wäre eine packende Geschichte. Doch die Story von der Freundschaft eines Bauernjungen zu einem Pferd, die selbst die Schlachten des Ersten Weltkriegs überlebt, ist eine vor Unwahrscheinlichkeiten strotzende Sentimentalität. Sie basiert auf dem Bestseller-Jugendbuch „War Horse“ von 1982. Ein Vierteljahrhundert später wurde es vom Londoner National Theatre adaptiert, mit musikalischen Kommentaren eines Balladensängers garniert und von Marianne Elliot und Tom Morris inszeniert. Die Produktion wurde zum Sensationserfolg und nachgespielt im gesamten englischsprachigen Raum: Ein Hit von Melbourne bis New York! Wobei man wissen muss, dass im anglophilen Raum der Erste Weltkrieg noch immer sonderlich präsent ist – hierzulande aber eher nicht. Da stehen Nationalsozialismus und WK II im Fokus der „Geschichtsaufarbeitung“.
Umso mutiger jetzt die als extrem innovativ verstandene Koproduktion der Stage Entertainment mit dem Londoner National unter dem neuen Titel „Gefährten“, die auch im Hinblick aufs bevorstehende Hundertjahr-Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu verstehen ist. Dennoch: Das Gutgemeinte bleibt ein Rührstück, aufgedonnert mit infernalischem Geschützlärm. Dabei erwartet die Kundschaft ein zünftiges Pferdemusical, kein Kriegsmelodram, dürftig gerahmt mit ein bisschen Musik, wankend zwischen Horror und Possierlichkeit, Show und Kitsch.

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Ein ätzend sarkastisches und doch ziemlich romantisches Wunderwerk ist der gallige, aber auch zauberhaft fantastische, dabei unheimlich leise Deutschland-Film „Finsterworld“ von Frauke Finsterwalder. Doch was heißt da Deutschland-Film. Dieses 90-Minuten-Panoptikum ist in der schwarz-rot-goldenen, politisch-ökologisch korrekten, von Überdruss und Unerfülltheit gequälten Überflussgesellschaft durchaus unaufdringlich geerdet. Letztlich aber bleibt es universell. Ist also menschlich und menschheitlich. Imaginiert das grausam Gleichgültige, egoistisch Böse, das so einsame wie verlogene Nebeneinander und zugleich auch die unausrottbare Sehnsucht nach Verständnis, Zuwendung, Glück und Schönheit. Immer wird die eine wie die andere Seite der Medaille Mensch gezeigt. In diesem Sowohl-als-auch, in diesem ominös Verquickten von Konstruktivem und Destruktivem steckt die schier überrumpelnde Überzeugungskraft dieses Films. Stecken sein Horror, seine Herzigkeit und sein Geheimnis. Ein sehr seltenes Kunststück! Voller höllischer Schläge und himmlischer Streicheleien. Und voller Kühle (und Coolness), über die gelegentlich ein wärmender, gar gnädig tröstlicher Pelz geworfen wird. Das letzte Wort nämlich hat hier nicht die Lieblosigkeit…
Das alles spielt sich wie selbstverständlich ab in verblüffend pointierten, episodenhaften, bestenfalls seltsam, schlimmstenfalls tödlich komischen Geschichtchen. Die hat Bestsellerautor Christian Kracht ausgetüftelt und frappierend ineinander verschachtelt. – Fein hingetuscht und delikat aufgetischt werden sie von durchweg ersten (Theater-)Schauspielern: u.a. von Margit Carstensen, Corinna Harfouch, Sandra Hüller, Johannes Krisch, Michael Maertens, Bernhard Schütz, Ronald Zehrfeld. Was für ein Super-Cast! Auch der eine Kostbarkeit. Ich bin amüsiert, bestürzt, hingerissen.

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Promi-Bilder-Gucken in Berlin. Denn er hat sie schließlich alle, alle, die ganz wahnsinnig oder etwas weniger wahnsinnig wichtig waren, gemalt: Anton Graff, der größte Porträtist der deutschen Aufklärung. Den feiert die Alte Nationalgalerie aus Anlass seines 200. Todestags mit einer opulenten Retrospektive, die sie organisiert hat zusammen mit dem Museum Oskar Reinhart in Winterthur, wo Graff 1736 in einer Zinngießerfamilie geboren wurde.
Sein sensationelles Händchen nebst Hirn und Herz fürs Porträt machte ihn früh berühmt. Schon mit Dreißig kam die Berufung nach Dresden als kürfürstlich sächsischer Hofmaler, und eine große internationale Karriere begann. Als der fleißige, in Sachsen wie in Europa eifrig herumgereiste Graff anno 1813 mit 73 Jahren an Typhus starb, hinterließ er mehr als zweitausend Bilder mit den VIPs seiner Zeit. Und achtzig Bilder seiner selbst; das letzte wenige Wochen vor seinem Tod – zur Selbsterkenntnis und zur Übung.
Freilich, nicht alle waren glücklich mit ihrem Abbild, das immerhin seinen Preis hatte: „Halbe Figur mit oder ohne Hand 50 Thaler, mit zwei Händen 100 Thaler.“ Herder fand sich zu prälatenhaft, Wieland zu hässlich, Lessing zu freundlich, Schiller monierte die melancholisch-entrückte Pose. Geschenkt! Die Welt wusste sehr wohl, was sie an Graffs Kunst hatte, und war schwer beeindruckt von der beseelten Lebendigkeit und „lebensechten“ Präsenz der Porträtierten. Graffs Schwager, der Schweizer Philosoph Sulzer, hat Bezeichnendes beobachtet: Die Modelle hätten „die scharfen und empfindungsvollen Blicke“ des Malers bei der Arbeit oft kaum ausgehalten. – Er hatte halt die große Gabe, die sein einzigartiges Künstlertum prägt: nämlich seine Kunden zu durchschauen – der schonungslose Blick. Womöglich war das ausschlaggebend, warum Superstar Goethe, mit dem Graff gut bekannt war, ausgerechnet von ihm, dem Besten der Branche, nie gemalt wurde. Obgleich der Chef-Klassiker sich gern porträtieren ließ (von Tischbein, Kügelgen, Stieler), und die übrige Weimarer Geisteselite komplett Schlange stand bei Graff.
Übrigens, auch Friedrich der Große saß nie im Atelier des Meisters. Doch ist sein Konterfei wohl Graffs weltweit berühmtestes Bild, nicht zuletzt durch die poppige Adaption von Andy Warhol. Graff malte nach Skizzen, sie entstanden, als er den großen König bei einer Parade beobachtete. Das Ergebnis: genial.

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Ja doch, zugegeben, es hat mich erwischt. Mal wieder, was selten geschieht; leider. Mit Shakespeares großem Abschieds-Wunderwerk „Der Sturm“; einer Produktion des Wiener Burgtheaters, inszeniert von Barbara Frey, jetzt gelegentlich auch im Berliner Ensemble. – Ja und, was heißt „erwischt“: Es hat mir das Herz gedrückt und gestreichelt und das Auge ein kleines bisschen feucht gemacht.
Das Zaubermärchen des alten William imaginiert eine von Menschen, Tieren, Fantasiefiguren bewohnte Trauminsel, die von dem weisen Prospero beherrscht wird, dem in seinem langen Leben viel Schlimmes widerfahren ist. Und auch auf seinem Eiland geht es nicht friedlich zu – halt wie überall auf der Erde. Doch Prospero hat einen Zauberstab, der das Böse vernichtet, der die Menschen menschlicher macht, ihnen ihre Schuld vor Augen führt und sie zur Reue bringt. Der den mörderischen Kreislauf der Gewalt durchbricht: dieses fatale „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.
Prosperos Sturm reinigt die Welt, auf dass Gnade und Güte die Oberhand gewinnen. Doch die Welt, die bleibt eben doch Nirgendland Utopia. Dichtung. Die finale Herrschaft von Gnade und Güte bleibt bloß frommer Wunsch und frohe Hoffnung am Rand von grausamen Abgründen. Das wundersame Werk – zugleich ein überwältigendes, klares Sprachkunstwerk – ist blutiger Dampf und drastische Komik und voller Bitterkeit und schwerer Melancholie, weil: Erlösung gibt es nur auf der Bühne vorgespielt.
Barbara Frey tuscht Shakespeares Traumspiel kurz und knapp gefasst (Dramaturgie: Joachim Lux) wie ein luftiges Aquarell auf die Bretter mit nur drei Schauspielern für ein gutes Dutzend Rollen. Tolle, frappierend flinke und treffliche Verwandlungsarbeit von Maria Happel, Joachim Meyerhoff und Johann Adam Oest. Minimalistisches, ganz auf Gestik und Sprache gestelltes Spiel – eigentlich gar kein Sturm, sondern, bei allem Gepolter aus Krieg, Krampf, Liebe, graziös daher geweht wie ein verspätet lauer Sommerwind – und schließlich verwehend wie ein leises, kühles Adieu. Wie ein gnädig sanftes Sterben. „Wir sind vom gleichen Stoff, aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.“ Alles berückend schön, unendlich traurig. Und so albern und so sehr wahr.