16. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2013

Ein Jahr im Leben von Marcel Proust

von Mathias Iven

Vor einhundert Jahren, am 14. November 1913, wurde in Paris „Du côté de chez Swann“, der erste Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, veröffentlicht. Jahrelang hatte Marcel Proust an diesem, sich in der Folgezeit zu einem Monumentalwerk auswachsenden Buch gearbeitet. Es wurde gestrichen, umgeschrieben, wieder verworfen. Luzius Keller, Herausgeber der Frankfurter Proust-Ausgabe und ausgewiesener Kenner von dessen Werk, gibt jetzt mit einem schmalen, aber gewichtigen Büchlein einen Einblick in die Werkstatt des Schriftstellers. Beginnend im Januar 1913 verfolgt er auf der Grundlage von Prousts umfangreichem Briefwechsel und mit nicht zu überbietender, textarchäologischer Akribie die letzten Monate des Entstehungsprozesses von „Du côté de chez Swann“.
Vor dem Ersten Weltkrieg ist Paris das Zentrum der künstlerischen Avantgarde Europas: Futurismus, Kubismus, Simultanismus, die Collagen von Braque und Picasso, die Gedichte Apollinaires, Nijinskys Choreographien für die Ballets Russes – es ist ein Kommen und Gehen von Strömungen und Ideen. Und Proust, vollkommen unbeeindruckt, lebt mittendrin.
Anfang 1913 hat er schon mehrere Ablehnungen hinter sich. Sein Manuskript stößt auf Unverständnis. Erst im Februar findet er mit Bernard Grasset einen Verleger. Sofort macht Proust sich an die Druckvorbereitung. Möglicherweise, so teilt er Grasset mit, könne es noch ein paar Zusätze geben. Dass Proust den Druckfahnen mit Schere und Kleber zu Leibe rückt und dass sich die „Zusätze“ zu eigenständigen Kapiteln, ja weiteren Bänden auswachsen, hat der Verleger nicht geahnt. Der Autor entschuldigt sich für ein derartiges „unentwirrbares Durcheinander, das Ihren Arbeitern [gemeint sind Grassets Setzer – M. Iven] zu meinem Bedauern Mühe bereiten wird“. Selbst der Titel wird mehrmals geändert und steht erst im Mai endgültig fest. Die Übersetzer haben damit übrigens bis heute ihr Problem: Beginnend mit der ersten, 1926 von Rudolf Schottlaender vorgelegten deutschen Ausgabe können wir wählen zwischen „Der Weg zu Swann“ oder, wie Eva Rechel-Mertens 1953 den Band betitelte, „In Swanns Welt“. Luzius Keller schlägt „Unterwegs zu Swann“ vor und in der im Reclam Verlag vorgelegten jüngsten Übersetzung lautet der Titel „Auf dem Weg zu Swann“.
Als das Buch schließlich im November in einer Auflage von 1750 Exemplaren erscheint, ist die Werbekampagne bereits angelaufen. Proust selbst versucht, potenzielle Rezensenten für eine Besprechung zu gewinnen. So weist er beispielsweise darauf hin: „dass ich dem Buch, in das ich das Beste meines Denkens, ja meines Lebens gelegt habe, unendlich mehr Bedeutung zumesse als allem, was ich bisher gemacht habe“. Er sollte Recht behalten.
Wer nicht allein im Jahre 1913 verweilen möchte, und wer noch einen Blick auf das Pariser Milieu werfen will, dem sei ein Buch ans Herz gelegt, das schon vor einiger Zeit erschienen ist und – leider – wenig Beachtung gefunden hat. Gemeint ist der von dem Pariser Soziologen Dan Franck stammende Band „Montparnasse und Montmartre“.
Nimmt man das Buch in die Hand, sieht man sich zunächst einer unüberschaubaren Anzahl von agierenden Personen gegenüber. Wie soll man den Inhalt eines solchen Kompendiums umreißen? Es scheint, dass jeder erfasst werden sollte, der in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts künstlerisch-literarisch in Paris gewirkt hat. Abgesehen von den „Großen“ treten uns zahlreiche, heute kaum noch bekannte „Randfiguren“ der Szene entgegen. Beschränken wir uns also auf die Nennung von ein paar wenigen Namen. Natürlich tauchen Picasso, Braque, Modigliani oder Utrillo auf. Selbstverständlich begegnen wir Apollinaire, Cocteau, Aragon oder Breton. Aber da sind auch die Kunsthändler, wie Daniel-Henry Kahnweiler und Berthe Weill, oder die Besitzer der Szenelokale und Bordelle.
Francks Erzählstil wechselt zwischen Distanz und Nähe, Skurriles steht neben scheinbar Unbekanntem. Die eine oder andere längst vergessene Episode wird wiedererzählt, und doch staunt man, wie Franck sie geschickt verkürzt oder in eine neue Form bringt. So erinnert man sich beispielsweise bei der Beschreibung einer spektakulären Autorückholaktion mit den Hauptdarstellern Hemingway und Scott Fitzgerald sofort an die entsprechenden Zeilen in Hemingways „Paris, ein Fest fürs Leben“. Was dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch tut, im Gegenteil. Franck wird zu einem Erzähler, der scheinbar überall selbst mit dabei war und dem gestattet wurde, auch die noch so intimsten Momente zu beobachten.
Franck hat lobenswerterweise nicht nur versucht, ein möglichst umfassendes Bild von den zur damaligen Zeit in Paris handelnden Akteuren zu liefern, er beschreibt vor allem die zahlreichen, teils heute noch existenten Schauplätze. Wäre es da aus verlegerischer Sicht nicht angeraten gewesen, dem Buch wenigstens einen Übersichtsplan beizugeben? Und ein zweites kleines Manko sei benannt: Neben der vorhandenen, recht schmalen Auswahlbibliographie vermisst man das für einen derartigen Text unumgängliche Personenregister, das den Band erheblich aufwerten würde und helfen könnte, sich in den verschiedenen Beziehungsgeflechten zurechtzufinden.
Kehren wir noch einmal zurück zu Proust. Man schreibt den 19. November 1922. Neun Jahre sind seit der Veröffentlichung von „Du côté de chez Swann“ vergangen. Jean Cocteau hat Man Ray zu sich rufen lassen. Der Fotograf, der Proust bisher nicht begegnet ist, soll ihn heute ablichten. Nur zwei Abzüge: einer für Cocteau, einer für die Familie – wenn Ray es wünscht, ein dritter für ihn selbst. Er wird in Prousts Schlafzimmer geführt. Aufgebahrt, in voller Kleidung liegt dieser auf dem Bett. Am Tag zuvor war er im Alter von nur 51 Jahren verstorben.

Luzius Keller: Proust 1913. Momentaufnahmen mit Rückblenden und Vorausblenden, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013, 128 Seiten, 14,00 Euro.

Dan Franck: Montparnasse und Montmartre. Künstler und Literaten in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Parthas Verlag, Berlin 2011, 568 Seiten, 28,00 Euro.