16. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2013

Der Fall Seefeld

von Frank-Rainer Schurich

Während Serienmörder wie Fritz Haarmann („Der Schlächter von Hannover“), Karl Denke in Münsterberg/Schlesien („Der Kannibale“) und Peter Kürten („Der Vampir von Düsseldorf“), die in der Kriminalgeschichte einen schauderhaften Reigen tanzen, immer noch in der Volksseele tief verwurzelt sind, ist der Fall des multiplen Kindermörders Adolf Seefeld fast unbekannt. Auch Fachleuten gibt er heute immer noch Rätsel auf.
Adolf Seefeld hatte in den Dörfern zwischen Ostsee und Elbe sehr viele Kunden, denen er defekte Uhren reparierte und die ihn als zuverlässigen Uhrmacher schätzten. Auch die Kinder kannten ihn gut; liebevoll nannten sie ihn „Onkel Tick Tack“ oder „Onkel Adi“.
Niemand wusste, woher der am 6. März 1879 in Potsdam Geborene kam und wohin er ging, und dass er eigentlich Schlosser war, der seine Frau und drei Kinder verlassen hatte. Er war seit 1904 ohne festen Wohnsitz und schlief im Freien, im Sommer und im Winter. Wenn er nicht gerade weggeschlossen war, denn er verbrachte 23 Jahre seines Lebens in Gefängnissen und Zuchthäusern, zumeist wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Und irgendwann begann das Morden, wobei nicht geklärt werden konnte, ob er Lust am Töten hatte oder einfach nur seine Sittlichkeitsverbrechen verschleiern wollte.
Im späten Winter 1935 eskalieren die Ereignisse im östlichen Norden Deutschlands; die Bevölkerung zwischen Rostock, Lübeck, Schwerin und Wittenberge ist in hohem Maße verunsichert. Denn seit dem 16. Februar 1935 wird der elfjährige Schüler Hans-Joachim Neumann aus Wismar vermisst. Er war an diesem Tage mit einem Lastwagenfahrer nach Schwerin gefahren, um Bekannte zu besuchen. Dort ist er aber nie angekommen, und er kommt auch nicht zum Treffpunkt für die Rückfahrt in die Hansestadt.
Seit dem 23. Februar 1935 ist zudem der neun Jahre alte Schüler Heinz Zimmermann aus Schwerin spurlos verschwunden. Er wollte an einer Schülerwanderung teilnehmen, ist aber an der Sammelstelle nicht gesehen worden.
Am 28. Februar 1935 wird über die Presse die Bevölkerung aufgerufen, sachdienliche Hinweise der Landeskriminalpolizei Schwerin mitzuteilen. Es muss davon ausgegangen werden, dass an den Kindern Verbrechen verübt wurden. Von der Staatsanwaltschaft in Schwerin wird eine Belohnung in Höhe von 500 Reichsmark zur Verfügung gestellt.
Daraufhin gehen einige Informationen bei den Untersuchungsbehörden ein. Zeugen wollen die Kinder mit einem älteren, nicht sehr großen Mann mit einem auffallenden Hut gesehen haben, von dem es dann nach eingehenden Befragungen brauchbare Personenbeschreibungen gibt.
Am 23. März 1935 wird der neunjährige Schüler Gustav Thomas in einer Kiefernschonung vor Wittenberge tot aufgefunden. Der Junge war zuvor als vermisst gemeldet worden. Mehrere Zeugen hatten ebenfalls einen älteren Mann mit dem Jungen gesehen, so dass wiederum ein sehr gutes Signalement vorliegt. Die Beschreibungen der Person von den Schweriner Fällen und dem Wittenberger Ereignis ähneln sich auffallend.
Der wichtigste Hinweis aber kommt aus der Stadt Grabow in der Nähe von Ludwigslust. Ein Gendarmeriekommissar erinnert sich an einen Fall aus dem Jahr 1930. Damals hatte ein älterer Mann versucht, zwei Jungen mit Hilfe von Versprechungen in den Wald zu locken – was aber misslang. Der Kommissar aus Grabow stellt die Personalien des Mannes fest, der Adolf Seefeld hieß und der in der Kartei für Sittlichkeitsverbrecher mehrfach erfasst war. Der Aufenthalt von Seefeld ist zu diesem Zeitpunkt aber unbekannt.
Die Gendarmerie- und Polizeibehörden erhalten ein Fahndungsblatt mit einem Lichtbild. Bereits nach 48 Stunden, am 3. April 1935 , kann Seefeld in der kleinen Ortschaft Wutzetz bei Friesack im Kreis Neuruppin dingfest gemacht werden.
Seefelds Festnahme gestaltet sich unspektakulär. Er sitzt gerade bei einem Bauern im Wohnzimmer und will Uhren reparieren, lässt sich ohne Widerstand abführen. Die Zeugen aus Wittenberge erkennen ihn sofort wieder. Er schweigt zu allen Vorwürfen und kann sich auch nicht erinnern, wo und wann er gewesen war. Auf unbequeme Fragen antwortet er überhaupt nicht.
Hans-Joachim Neumann aus Wismar und Heinz Zimmermann aus Schwerin sind trotz einer umfangreichen Suche immer noch nicht gefunden. Die Schweriner Kriminalisten holen sich Hilfe aus Berlin – den Leiter der Berliner Mordkommission Hans Lobbes. Hier gab es auch drei mysteriöse Todesfälle von Jungen.
Hans Lobbes ist sich sicher, dass Adolf Seefeld auch der Mörder dieser Kinder ist. Er vernimmt Seefeld psychologisch geschickt und lockt ihm zwar kein Geständnis ab, aber immerhin seine Aufenthaltsorte. Zeugen aus Schwerin bestätigen, dass Seefeld zu unterschiedlichen Zeiten mit den beiden vermissten Kindern gesehen wurde.
Am 31. Mai 1935 fordert Lobbes eine der besten Hundestaffeln der Welt an – die der Berliner Kriminalpolizei. Der berühmte Schäferhund „Schimmel“ findet einen Tag später die Stelle in einer Kiefernschonung, an der die Leiche von Heinz Zimmermann 30 Zentimeter tief vergraben ist. Am 20. Juni 1935 findet „Schimmel“, wieder in den Göhrener Tannen unweit der Ortschaft Krebsförden bei Schwerin und in der Nähe des „Grabes“ von Heinz Zimmermann, den ebenfalls vergrabenen Karl-Heinz Neumann.
Zwischenzeitlich wird die Beweislage für Adolf Seefeld immer erdrückender. Für die Zeiten, in der er im Gefängnis war, gibt es weder vermisste Kinder oder auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen kleine Jungen, und an allen Orten, an denen toten Kinder aufgefunden wurden, war Seefeld anwesend. Das beweist auch ein Tagebuch, das bei ihm gefunden wurde.
Am 21. Januar 1936 wird in Schwerin der Prozess gegen Seefeld eröffnet; das Gerichtsverfahren wird vier Wochen dauern. Über 150 Zeugen und Sachverständige sagen aus, Sachbeweise gibt es nur wenige, zum Beispiel ein bei ihm gefundenes Tuch mit menschlichem Blut und das Tagebuch. Ein Geständnis legt Seefeld nicht ab.
Landgerichtsdirektor Dr. Sarkander spricht am 22. Februar 1936 von einem „restlos gelungenen Indizienbeweis“. Seefeld wird wegen zwölffachem Mord an Knaben (fünf bis 13 Jahre alt) zum Tod durch das Fallbeil verurteilt.
Aber das Urteil wird erst drei Monate später, und zwar am 23. Mai 1936, vollstreckt. Der Schweriner Kriminologe Michael Stricker schreibt dazu, dass es damals in Nazideutschland nicht zugelassen werden konnte, „dass ein ‚arbeitsscheuer niederer Mensch mit krankhaften und kriminellen Erbanlagen‘ arrogant und überheblich im Gerichtssaal auftritt und darüber noch die Frechheit besitzt, kein Geständnis abzulegen“.
Adolf Seefeld wird der Gestapo nach Berlin überstellt, um ihn durch eine „besondere Behandlung“ zum Geständnis zu bewegen. Unter der Folter gibt er alles zu, was man von ihm hören will. Er „gesteht“, die Jungen durch ein selbst gebrautes Mittel vergiftet zu haben.
Dennoch bleibt völlig offen, wie die Kinder zu Tode gekommen sind. Michael Stricker geht davon aus, dass Seefeld den Kindern einen wohlschmeckenden konzentrierten Aufguss aus einer Waldpflanze (vielleicht Maiglöckchen) verabreicht hatte. Ein Nachweis der biologischen Gifte war damals noch nicht möglich.
Wie viele Jungen er tatsächlich umgebracht hat, wird ebenfalls für immer ein Rätsel bleiben. Seefelds Wege führten bis nach Aachen, Süddeutschland und Schlesien, wo es auch vermisste und tote Kinder gab. Die Kapazitäten der Polizei reichten damals nicht aus, um alle diese Spuren zu verfolgen. Vor seinem ersten nachgewiesenen Mord im April 1933 war gegen Seefeld in zehn Fällen wegen Kindestötung ermittelt worden; ein Beweis glückte aber nie.