16. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2013

Was wir vom Weltall sehen und was uns verborgen bleibt

von Dieter B. Herrmann

„Dunkel war’s, der Mond schien helle …“, – so beginnt das bekannte Gedicht eines unbekannten Autors, und mit solchen Paradoxien geht es dort weiter. Auch das Weltall stecke voller Paradoxien, sagen manche Autoren und sie meinen damit, dass wir Fakten entdecken, die wir dann mit Hilfe etablierter Theorien zu erklären trachten und uns wundern, wenn das nicht funktioniert. Ein solches Faktum ist die „Dunkle Materie“, wobei – wie sich gleich herausstellen wird – wir dem Kind hier lediglich einen Namen gegeben haben.
Doch von vorn: Bereits zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts machten der niederländische Astronom Jan Hendrik Oort und der Schweizer Fritz Zwicky zwei merkwürdige Entdeckungen. Oort fand heraus, dass die Dicke der scheibenförmigen Anordnung der Sterne im Milchstraßensystem aus der Zahl der beobachteten Sterne nicht zu erklären war. Zwicky wunderte sich über die Bewegungsverhältnisse in einem fernen Galaxienhaufen im Sternbild „Coma Berenices“, dem über 1.000 Sternsysteme angehören. Die Masse des Sternhaufens würde nicht im Entferntesten ausreichen, um die einzelnen Galaxien zusammenzuhalten. Er schloss daraus auf eine nicht sichtbare Art von Materie, die die beobachtbare noch dazu deutlich übertrifft. Die Reaktion bestand in heftiger Ablehnung seiner These durch fast alle Kollegen.
Soweit, so normal. Nicht jeder angeblich neue Befund und auch nicht jede Interpretation werden von der Wissenschaft sofort akzeptiert. Durch gesunde Skepsis wird massenhaft produzierter Unsinn aussortiert, wo würde man sonst auch hinkommen. Doch in diesem Fall gelang das nicht so recht, weil es sich möglicherweise gar nicht um Unsinn handelte. Schnelle Rechner, mit denen die Bewegungsverhältnisse in Galaxien simuliert werden konnten, ließen später erkennen, dass die Sternsysteme eigentlich sofort kollabieren müssten, was sie in der Realität offenbar nicht tun. 1972 kam ein weiterer Befund hinzu: Die Geschwindigkeiten, mit denen sich die Sterne in den äußeren Bereichen von Galaxien um deren Zentrum bewegen, waren gegenüber den Erwartungen viel zu hoch. Und was heißt hier „Erwartungen“? Gemeint sind die Keplerschen Gesetze und damit letztlich das Newtonsche Gravitationsgesetz. Danach ergibt sich aus der Masse eines Sternsystems eine Rotationskurve mit abnehmenden Geschwindigkeiten von innen nach außen – wie auch bei den Planeten in unserem Sonnensystem. Während der sonnennächste Planet Merkur mit rund 48 Kilometer je Sekunde um die Sonne rast, schleicht der ferne Neptun nur mit 5,4 Kilometer je Sekunde dahin. Doch die Beobachtungen bei den Galaxien zeigten etwas ganz anderes. Zunächst nahmen die Geschwindigkeiten tatsächlich ab, doch dann wieder zu. Per Radiobeobachtungen im Bereich der Mikrowellenstrahlung des Wasserstoffs  zeigte sich dieser Befund noch deutlicher, weil man nun viel weiter außen liegende Bereiche der Sternsysteme erfassen konnte. Alles deutete auf Masse hin, die auf keine Weise optisch oder in anderen Wellenlängen-Bereichen wahrgenommen werden kann, aber dennoch vorhanden ist.
Merkwürdig ist auch der Befund, dass die Geschwindigkeiten in den äußeren Bezirken von Galaxien alle etwa gleich sind, obwohl die Massen der Galaxien selbst sich stark voneinander unterscheiden. Da ist guter Rat teuer.
Es verwundert kaum, dass Astrophysiker, Kosmologen und Teilchenphysiker mit unterschiedlichsten Denkansätzen höchst fantasievoll versuchten, dem Geheimnis dieser „Dunklen Materie“ auf die Spur zu kommen, die nach neuesten Messungen 26,8 Prozent der Energiedichte des Weltalls ausmacht. Zunächst bieten sich zur Erklärung Objekte oder Teilchen an, die man schon kennt. Kann vielleicht deren Verbreitung im Universum das Defizit erklären? Dabei denkt man an bereits erloschene Sterne, an Schwarze Löcher oder auch an „Braune Zwerge“, einer Objektklasse, die zwischen Planeten und Fixsternen einzuordnen ist. Der Oberbegriff, der sich für all diese Objekte eingebürgert hat, heißt Machos (Massive Compact Halo Objects), weil man die „Dunkle Materie“ in diesen die Galaxien großräumig und kugelförmig umgebenden Objekten vermutete. Auch Planetoiden, also kleine Planeten, von denen es in unserem Sonnensystem Millionen gibt, wurden als mögliche Machos in die Überlegungen mit einbezogen. Die genauere Untersuchung der in Frage kommenden Objekte ließ aber rasch die Hoffnung schwinden, auf diese Weise das Phänomen der „Dunklen Materie“ fassen zu können. So bestehen beispielsweise Planetoiden aus sogenannter baryonischer Materie, das heißt aus schweren Elementen wie Kohlenstoff, Silikaten, Eisen etcetra. Um die erforderlichen Mengen an solchen Elementen zu erklären, hätte es in den Galaxien während der Frühzeit des Universums zehnmal so viel Sterne geben müssen wie heute. Nur im Innern von Sternen könnten nämlich die schweren Elemente synthetisiert werden, die wir benötigten, um die erforderliche Zahl von Planetoiden zusammenzubekommen. Wir brauchen also nur in die Tiefen des Alls schauen, wo wir es mit jüngeren Galaxien zu tun haben. Doch diese leuchten nicht etwa heller als die älteren Galaxien. Fazit: Machos sind durchaus vorhanden, aber nicht in der nötigen Zahl, um den hohen Anteil an „Dunkler Materie“ zu erklären.
Zugleich ist das Universum auch erfüllt von einer unvorstellbaren Menge von Neutrinos, die beim Urknall produziert wurden. Diese elektrisch neutralen Elementarteilchen zeigen kaum Wechselwirkungen mit Materie und sind erst im Jahre 1956 erstmals nachgewiesen worden. Ihre Masse ist aber bei weitem zu gering, um sie als eine wesentliche Komponente der „Dunklen Materie“ betrachten zu können. Außerdem handelt es sich bei den Neutrinos (wegen ihrer hohen Geschwindigkeiten) um „heiße dunkle Materie“ (Hot Dark Matter = HDM). Die frühe Strukturbildung im Universum, die schon einsetzte, bevor die Atome entstanden waren, kann aber nur mit kalter dunkler Materie (Cold Dark Matter = CDM) erklärt werden.
Alle diese Ergebnisse veranlassten manche Forscher zu innovativen theoretischen Überlegungen. Unter anderem wurde vorgeschlagen, das Newtonsche Bewegungsgesetz für kleine Beschleunigungen, wie sie etwa auf unser Sonnensystem im galaktischen Gravitationsfeld wirken, abzuändern. Dann könne man auf die „Dunkle Materie“ völlig verzichten und alle beobachteten Erscheinungen erklärten sich aus dieser „Modifizierten Newtonschen Dynamik“ (MOND). Bisherige Untersuchungen an Galaxienhaufen zeigen jedoch, dass selbst, wenn MOND zuträfe, noch „Dunkle Materie“ vorhanden sein müsste.
Elementarteilchenphysiker halten zur Erklärung der „Dunklen Materie“ völlig exotische Elemenarteilchen bereit, von deren Existenz sie aber auf Grund theoretischer Überlegungen überzeugt sind, ohne dass diese bisher nachgewiesen werden konnten,. Eine Gruppe dieser hypothetischen Teilchen sind die Axionen. Auch sie haben nur eine sehr kleine Ruhmasse, könnten aber beim Urknall in unvorstellbaren Mengen entstanden sein. In jedem Kubikzentimeter des Raumes sollten sich nach diesen Überlegungen hundert Billionen Axionen befinden. Die Suche nach ihnen ist in verschiedenen Labors – bisher erfolglos – im Gange.
Eine anderes postuliertes Teilchen ist das Wimp (Weakly Interacting Massive Particle). Es soll sich dabei um ein sehr massereiches Teilchen handeln (bis zum hundertfachen der Protonenmasse), das dennoch nur schwach wechselwikt. Für die Klumpungsprozesse im frühen Universum wären die Wimps allerdings hervorragend geeignet, denn sie zählen zur kalten „Dunklen Materie“. Auch der Nachweis der Wimps ist jedoch bislang nicht gelungen.
Die Kandidatenliste wird von einer anderen Gruppe von Theoretikern vervollständigt durch die ihrer Auffassung nach beim Urknall entstandenen Strings. Diese extrem dünnen „Fäden“ (gleichsam Fehlstellen im dreidimensionalen Raum) sollen sich mit ihrer Länge von vielen Milliarden Lichtjahren durch das gesamte Universum ziehen. Ihr Durchmesser liegt zwanzig Zehnerpotenzen unter dem des Protons. Nach der Theorie führen gekrümmte Strings zu gewaltigen Gravitationsfeldern – genau jenen, für die wir die „Dunkle Materie“ verantwortlich machen. Doch auch alle Varianten der Stringtheorie entziehen sich bisher hartnäckig jeder experimentellen Überprüfung. Zwischen den Vertretern der klassischen Elementarteilchenphysik und den Stringtheoretikern tobt seit Jahrzehnten so etwas wie ein erbitterter Glaubenskampf.
Vereinzelte Kritiker der bisherigen Lösungsvorschläge für das Problem der „Dunklen Materie“ fordern nun, sich aus dem Gefängnis der etablierten Theorien mutig zu befreien. Warum muss die Minorität auf dem Holzweg sein? (Galilei lässt grüßen.) Man solle vielmehr mit ins Kalkül ziehen, meinen sie, dass Naturgesetze und Naturkonstanten einer Evolution unterliegen könnten, die wir bislang nur noch nicht entdeckt haben. Wenn dies der Fall wäre, könnte sich die „Dunkle Materie“ sogar als ein Scheinproblem erweisen. Düster, düster – aber wirklich spannend.