16. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2013

Querbeet (XXXII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal stürzten zwei schwere Brocken vor Füße und Herz: Die Nachrichten vom Tod des Regisseurs Dimiter Gotscheff und des Schauspielers Otto Sander, dazwischen fand sich ein glamouröses Endspiel betagter Bühnenstars…

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Er hat geraucht wie ein Schlot; hat gerne und auch viel getrunken und hatte bis zuletzt die lange, aber eben auch befremdliche Mähne aus Jugendzeiten – damals noch Zeichen der Aufmüpfigkeit, die das erhobene Haupt wie ein Banner umwehte. Von dieser längst grau gewordenen Fahne wollte er niemals lassen, der hochaufgeschossene Dimiter Gotscheff aus Bulgarien mit dem rauen Bass in den Stimmbändern und dem grimmigen Humor im Herzen, der in der DDR Tiermedizin studieren wollte und statt in Ostberlin als Student zur Uni zu gehen sich als Theaterfreak am Deutschen Theater und an der Volksbühne verdingte. Um in der Praxis Theater zu lernen. Bei Hans Marquardt und Benno Besson.
Aus dem neugierig grüblerischen Regieassistenten wurde ein gefeierter Regisseur so bildmächtiger wie minimalistischer, präzis spielerischer und doch nie verspielter Inszenierungen, die genau auf den Text hören und im konzentriert kontrapunktischen Ineinander von Sprache und Spiel ihre enorme Wirkungsmacht entfalten.
Der Startplatz seines internationalen Ruhms aber war in seiner Heimat – damals vor genau drei Jahrzehnten am Dramatischen Theater in Sofia. Mit Heiner Müllers „Philoktet“, den Gotscheff als bulgarische Erstaufführung inszenierte und der dafür vom Autor einen Dankesbrief bekam, der zum einen in die Literaturgeschichte einging (und den der Adressat nach eigenem Bekunden vor lauter poetischer Abstraktion gar nicht begriff). Und der zum anderen eine Lebensbruderschaft mit Müller begründete. Dafür mag dieser eine Müller-Satz stehen: „Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.“ Man darf sagen, Gotscheff hat sich als Totengräber ins Leben gegraben. Der Quell seines ins Gegenwärtige so stark strahlenden Künstlertums waren die Werke, das Ach und Weh und das Glück der Altvorderen. Er las Shakespeare, Tschechow, Aischylos, Sophokles, Beckett und vor allem immer wieder den wuchtigen Pessimisten Müller mit dem verblüffenden Fazit: „Das ist nicht vergangen, das fängt erst an.“
„Der Regisseur ist ein Penner, der von den Almosen der Schauspieler lebt“, meinte stöhnend Freund Müller. Gotscheff  lax: „Da musst du aber sehr gut betteln können.“ Gotscheff muss das – mit sehr viel Witz – sehr gekonnt haben; immerhin galt er als Darling so ziemlich aller Schauspieler, mit denen er zu tun hatte. Freilich, seine Herzenslieblinge waren die Lebensgefährtin Almut Zilcher, dazu sein Landsmann Samuel Finzi, Wolfram Koch, Margit Bendokat – diese vier.
Vehement herzzerreißend und zugleich großartig sinnfällig Gotscheffs „Iwanow“-Inszenierung an der Berliner Volksbühne mit Finzi als immerfort selbstmitleidend am Bart zupfender Tschechow-Schwerenöter wider Willen, an dem sich alle kaputt reiben. Dieser unvergessliche Abend beschwor einen derart traurigen und doch vertrackt komischen Reigen an Kraftlosigkeit leidender Menschen, die unentwegt durch mal lichte, mal dichte Nebelschwaden über die ansonsten leere Bühne geistern, wie wir ihn so zuvor noch nie erlebt haben. Dazu der süß raunende Sound des Leichenhaus-Evergreens „It’s time to say goodbye“, ohne dass es je banal wird. Ohne dass die aufs Wesentliche komprimierte Story, die Erdung ans Konkrete aufgehoben wird und sich alles verliert in wohlfeiler Tschechow-Träumerei. Der Regisseur als großer, schmerzlicher Menschenkenner.
Drei andere signifikante Gotscheff-Momente in zwei epochalen Gotscheff-Arbeiten der letzten Jahre, entstanden an Berlins Deutschem Theater: Einmal die Zilcher überwältigend bitterkomisch in ihrem Solo als die alles Existierende, die Menschen, sonderlich die Männer und sich selbst beschimpfende crazy Lady Hasbeen in Ben Jonsons sarkastischer Satire „Volpone“. Zum anderen die Bendokat als alles Ungemach der Welt in atemberauender Coolness herausschleudernder Ein-Frau-Chor in den „Persern“ des Aischylos. Oder – auch in den „Persern“ – der alles Irdische erfassende Vergeblichkeitskampf und -krampf von Finzi & Koch als Vertreter feindlicher Lager gegeneinander mit der ewig im Kreis (auf der Drehbühne) delirierenden Riesenmauer, die unsere Daseinswelt böse teilt und doch wiederum zusammenhält. Gleichsam das Kunst- und Lebensmotto besagter Bande: Der Kampf auf verlorenem Posten findet statt.
Gotscheffs Beginn war Heiner Müller, sein Finale dieses Jahr im Frühjahr war es ebenfalls: Die Regie von „Zement“, die Müllersche Adaption des russischen Revolutionsromans von Fjodor Gladkow am Münchner Residenztheater. Es geht um den Terror des Neuen, aber auch um die große Vergeblichkeit im Ringen ums bessere Menschsein – dazu wird dem alten Sowjet-Russen noch Älteres, Archaisches beigestellt: nämlich die Mythen um Sisyphos, Herakles, Prometheus. Umspielend die Müllersche Frage: Wie lange wird es dauern, bis der Mensch ein Mensch wird?“ – Gotscheff: „Was soll da eine Antwort, ich bin, wie Heiner auch, aufgewachsen mit dieser urchristlichen oder auch urkommunistischen Idee, die Welt neu zu gestalten. Viele sind daran kaputt gegangen. Ich versuche zaghaft eine Annäherung. Und es genügt ja vielleicht schon, die genannte, berühmt-berüchtigte Frage öffentlich zu stellen. Im Spiel.“ – Nun ist es aus, das Spiel. Dimiter Gotscheff verstarb vor einer Woche nach kurzer schwerer Krankheit mit 70 Jahren in Berlin.

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Wirklich ein verwirrender Volksbühnen-Abend in Berlin. Gelegentlich einfältiges Geblödel, nervend pauschaler Schimpf auf Kulturpolitiker, wüster Trash. Dann wieder hoch poetische Kunststücke, herzergreifende Spielereien, feierlicher oder komödiantischer Schöngesang. Man ist gequält und genervt, ist begeistert, ergriffen, zu Tränen gerührt – um gleich wieder zu kichern oder sich zu wundern und ein bisschen zu ärgern.
Wir sind bei Regisseur Johann Kresnik, in seiner theatralisch-musikalisch-tänzerischen Revue „Villa Verdi“. Diese Villa ist ein Altersheim für Künstler. Dessen Fortexistenz wankt durch die drohende Streichung staatlicher Zuschüsse. Nun planen die Heim-Insassen eine Gala, mit der sie Sympathisanten, Solidarität, Geld gewinnen wollen – und wir erleben das Proben-Tohuwabohu, so die Situation, die sich Autor Christoph Klimke ausgedacht hat nach einem Film von Daniel Schmidt aus dem Jahr 1984 („Il bacio di Tosca“).
Es ist eine Zeitreise in die Vergangenheit, ins strahlende, auch verklärte, teils prominente Künstlerdasein der Betagten auf der Volksbühnen-Galashowbühne, in der die Gegenwart voller Angst und Gebrechen aber auch voller (vor)letzter Lust und unerschütterlichem Humor sowie das unvermeidlich bevorstehende Finale, der Tod, beklemmend, doch wiederum auch sarkastisch gewitzt aufscheint.
In dieser surreal durchwehten Achterbahnfahrt ins Präteritum, die zugleich prall ist vor lebendig Heutigem, vermischen sich Fiktionales und Authentisches: Da schwelgt Verdi-Insassin Ilse Ritter im Gedenken an ihre Ophelia („Hamlet“ in der Bochumer Zadek-Inszenierung 1978). Oder die DDR-berühmte Sängerin Jutta Vulpius schwärmt trällernd von ihrer Arbeit mit Walter Felsenstein in den 1950er Jahren an Berlins Komischer Oper. Jochen Kowalski, als Countertenor ein Weltstar, schmettert den Orlofsky aus der „Fledermaus“ und mimt gleich noch eine kesse Travestie auf der Revuetreppe. Und Annekatrin Bürger zeigt, dass sie gerade jetzt eine faszinierende, stimmgewaltige, wirklich großartige Chansonsängerin ist. Ihre Kollegen Ex-Volksbühnenstars Harald Warmbrunn und Hildegard Alex beschwören King Lear und Macbeth. Und den großen Chorgesang aus Verdi-Opern nebst allerhand verrücktem Jubeltrubel macht eine bunte Schar von dreißig Leuten, Altprofis und Laien.
Dazwischen passieren verwegen sinnbildliche Aktionen wie das Fußabsägen einer Tänzerin (Blut spritzt literweise), ein Tanz-Solo auf Krücken, Clownsnummern, Slapstickiaden mit dem Wischmopp. Auch krachen Kulissen zusammen, und ein ordentlicher Theaterbrand wird inszeniert. Ist also was los; man darf sich seinen Reim drauf machen. Wie auch auf die tollen klassischen Tänze eines Eleven-Paars aus der hauptstädtischen Ballettschule: Herrliche Jugend wirbelt durchs Altersheim, wo man doch nur zu gut weiß um die Vergänglichkeit von allem. Ein total verrückter, ein seltsam schöner, komisch melancholischer Abend.

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Eine Beerdigung ohne Polizeiwagen tauge nichts, meinte Marcel Reich-Ranicki; da stand er noch unter uns in Saft und Kraft. Jetzt haben wir Otto Sander zu Grabe getragen, der nach langer Krebskrankheit mit 72 Jahren starb. Und beim Abschied im Berliner Ensemble habe ich – immerhin – zwei Polizeiwagen am Bertolt-Brecht-Platz gesichtet, die dann den anschließenden Trauerzug auf dem Stück gesperrter Friedrichstraße zum Dorotheenstädtischen Friedhof begleiteten. Im Schaukasten am Theatereingang Otto Sander anno 2001 als komisch-linkische Figur Sankt Florian aus Christoph Ransmayrs Theaterfantasie „Die Unsichtbare“ – Er ein bisschen wie die Jungfrau von Orleans im gepanzerten Flügelkleide; also Helm, Brustblech mit Federn am Rücken. Und in feuerroten Strumpfhosen.
Auf der Bühne der schmucklose helle Eichensarg, bestreut mit Rosenblättern, daneben Kerzen. BE-Hausherr, Kollege und Freund Claus Peymann machte den Anfang im illustren Reigen der Redner, erinnerte – frei und sehr zärtlich sprechend – an gemeinsame wilde Zeiten in Heidelberg, als da die Luft brannte. Er nannte Otto einen deutschen Nestroy, einen Berliner Karl Valentin und befand, es könne für einen Schauspieler doch letztlich nichts Schöneres geben, als direkt von der Bühne weg ins Grab zu kommen, in dessen Nachbarschaft auf dem Dorotheenstädtischen schon so viele Brüder im Geiste sind – „was für einen Totentanz wird das wohl geben“.
Dann Staatsopernintendant Jürgen Flimm: „Der Rotschopf mit den Sommersprossen, der rauen Stimme und dem grübelnden Herzen – wir hatten ihn alle so lieb.“ Margarita Broich erzählte vom letzten Glas am Totenbett bei ihm zu Hause in Charlottenburg: „Otto starb im Kinderzimmer, bei einem nachmittäglichen Nickerchen, ganz friedlich“.
Es wurden Botschaften verlesen von Michael Gorbatschow, Luc Bondy, Botho Strauß („Er ist eine Kreatur des Traurig-Komischen“). Robert Wilson grüßte via Bandeinspielung aus dem Off und Max Raabe sang ein leises Liedlein. In Klaus Pohls letztem Gruß an diesen „herzenstiefen Menschen“, der nie laut war und immer voller Hingabe und keinen falschen Ton hatte, heißt es: „Er hat uns im Spiel seine großen blauen Augen aufgesetzt.“
Zwischen den vielen Rednern wunderbare Filmeinblendungen; im Ausschnitt eines TV-Porträts gibt der große alte Westberliner Schaubühnen-Star sein Credo: „Wenig machen! Mit allen darstellerischen Mitteln undarstellerisch sein.“ Ja, er machte halt nie; er schien immer nur machen zu lassen. Und wunderte sich über die dauernde Nachfragerei nach dem Handwerk. Was sei daran „Hand“? ‑ „Gesichtswerk!“.
Zum Schluss kommen die Kinder. Ben Becker mit einem Gruß an den Seemann, der von der Küste kam und leidenschaftlich gern segelte. Meret Becker mit einer Spieluhr, die sie auf dem Sarg ganz sachte zum Klingen bringt. Wie schön. Traurig schön.
Und ganz zum Schluss wie ein Nachhall noch einmal Sanders Stimme. Mit Joachim Ringelnatz: „Ich reise/ Alles, was lange währt,/ ist leise./ Die Zeit entstellt alle Lebewesen./ Ein Hund bellt./ Er kann nicht lesen./ Er kann nicht schreiben./ Wir können nicht bleiben./ Ich lache./ Die Löcher sind die Hauptsache in einem Sieb./ Ich hab dich so lieb.“