16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Sonntagsausflug

von Renate Hoffmann

Noch schwimmen Spätsommerwolken über den Himmel. Doch schon kühlt der Morgen empfindlich. Man sollte sich einen heiteren Tag gönnen, ehe die Nebel ziehen.
Schloss Molsdorf im Thüringischen; in einem ruhespendenden, großen Garten gelegen, der einladenden Stadt Erfurt benachbart, den Charme leisen Verfalls und sorgfältiger Wiederbelebung tragend, ist der geeignete Ort für dieses Ansinnen. Sein zwischenzeitlicher, das Ensemble jedoch prägender Schlossherr baute, gestaltete nach einer trefflichen  Devise: „Vive la joie“. Es lebe die Freude.
Gustav Adolph Graf von Gotter (1692-1762). Aus bürgerlichem Hause; strebend, aufstrebend. Jurist. Geschickt im Denken und Handeln und baldigst in diplomatischen Diensten. Sowohl für seinen Landesherrn Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg als auch für das Herzogtum Württemberg und den preußischen Hof. Dort in Gunst stehend bei den Königen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. Er heimste Orden ein, wurde mit Titeln nach oben getragen und genoss es, „Wohlgeboren“ und aufsteigend „Hochwohlgeboren“ genannt zu werden.
Ernst Christoph Graf von Manteuffel (1676-1749) berichtet von ihm: „Gotter hat entschieden viele natürliche Anlagen, Verstand und Gewandtheit, er ist ehrlich, offenen Herzens, edelmütig, dienstfertig, Freund seiner Freunde.“ Zu einem dieser Freunde durfte er in seiner mehr als zwanzigjährigen Dienstfertigkeit am Kaiserhof in Wien Prinz Eugen von Savoyen (1663-1736), den „edlen Ritter“, zählen. Und zu Friedrich II. entspann sich ein äußerst wohlwollendes Verhältnis. Hätte er Von Gotter sonst zum Oberhofmarschall, Generalpostmeister und einem der Kuratoren der Akademie der Wissenschaften zu Berlin ernannt? Versehen mit den nötigen Dotationen, versteht sich.
Man möchte Manteuffels Beschreibung der Gotterschen Wesensart ergänzen: Er verehrte Horaz und wertschätzte Voltaire; war Kunstverständiger und -sammler. Man sprach von seinen großzügig ausgestatteten Festen, seiner Redefreudigkeit, die ihm auf Grund der volltönenden Stimme den Beinamen „le Jupiter foudroyant“, der donnernde Jupiter, eintrug. Selbstbewusst, gewieft im Einstreichen fürstlicher Gehälter – und beständig in Geldnöten. Verschwender, Genießer. Ein Tausendsassa. Kurzum: „Er war ein schöner Mann, heiter und fröhlich, […] eines jener prächtigen Originale, die man niemals zum Vorbild nehmen darf“, heißt es in einem Nachruf.
Was Von Gotters männliche Schönheit angeht, so darf sie jeder nach den Gemälden im Schloss für sich einschätzen. Sie muss wohl dergestalt gewesen sein, dass er als „Liebling aller liebesbedürftigen Frauen“ galt. Und seine Frohnatur machte ihn 1743 zum Mitglied Nr. 39 im „Orden der gutgelaunten Eremiten“. Eine Gründung zum Zwecke „Kummer und schlechte Laune aus der Seele zu bannen.“ Die Mitglieder trugen Ordensnamen. Von Gotter hieß, temperamentsbezogen, „le Tourbillon“, der Wirbelwind. Zur Begrüßungszeremonie gehörte der Ruf „Vive la joie!“
Jener Von Manteuffel schildert seine persönliche Aufnahme in den fröhlichen Orden, die im Schloss Molsdorf gewesen sein soll: Nach jedem Trinkspruch hatte unter dem Donner von sechs Kanonen das Vive-la-joie zu erschallen. Es erschallte aber nur einmal, denn bei der ersten Kanonendonnerdruckwelle gingen mehr als 50 Scheiben zu Bruch. Aus war’s mit Es-lebe-die-Freude.
Von Gotter, der Glückspilz, setzt zweimal auf Staatslotterien in London und Den Haag und gewinnt über 150.000 Gulden. Das garantiert einerseits den Fortbestand des aufwendigen Lebens und andererseits – da noch ein Sümmchen verbleibt – den Ankauf von Schloss, Garten und Gut Molsdorf.
Das in feiner Zier gearbeitete Westportal und sauber geharkte Kieswege führen zum Schloss. Hätte ich den Hauptzugang an der Nordseite gewählt, so wäre mir der Sinnspruch über der schlichten Eingangspforte aufgefallen, den Herr von Gotter anbringen ließ (in gepflegtem Latein): Dieser Erdenwinkel gefällt mir vor allem. – Nur wenige Schritte, und schon stimmt man dem zu.
Der ungewöhnlich langgestreckte, schmale Lustgarten leitet den Blick über Rasenflächen, Staudenbeete in wilden Spätsommerfarben zur offenen Landschaft hinüber. Schmucklilien blühen, und vom Teich her leuchtet die gelbe Iris. Lindenalleen und betagte Kastanienbäume begrenzen die Lust. Dem Schloss zur Seite spreizt sich als kleiner Lustableger ein Barockgärtchen. In Quartieren, durch niedrige Buchshecken getrennt, gibt blauer Salbei den Ton an. Bosketts zum Verweilen, Wasserlauf und Plätscherbrunnen und heiteres Gartenvolk aus Stein.
Als Herr von Gotter im Jahr 1734 den Besitz erwarb, begann die große Umgestaltung des Vorhandenen zum spätbarocken Ensemble mit deutlichen Anklängen des Rokoko. Steht man vor der Südfassade des Bauwerkes, so scheinen sich hier Schloss und Garten unmerklich zu vereinen. Von Flora beherrscht, mit Ceres, Bacchus und Zephir im Bunde und dem Gotterschen Wahlspruch dienend: Es lebe die Freude. – Jahrhunderte gingen verändernd über die Absicht des Bauherrn hinweg, mit der harmonischen Anlage Zerstreuung und Vergnügen zu spenden, Pracht zu entfalten. Vergnügen und Zerstreuung sind geblieben.
Die Gartenseite des Hauses trägt festlichen Schmuck. Floravasen stehen in den Nischen des Erdgeschosses und auf der Attika. Die Göttin selbst, vollbusig, mit Blumen und Früchten im Überfluss, residiert im Obergeschoss. Zu ebener Erde öffnen sich Türen ins Innere.
„Pantoffeln anziehen und schlurfen“, sagt der Herr, der durch die Räume führt. Ein Abglanz vergangener glorreicher Tage liegt noch immer über der Suite, obgleich vieles der Ausstattung ergänzt werden musste. Allüberall begegnet man der Schutzherrin von Haus und Garten. Bereits im Vestibül schwebt sie auf dem Deckengemälde, tändelt mit Zephir und streut Blumen. Oder sie vergnügt sich andernorts mit Venus, Apoll und der Götterschar in olympischen Gefilden.
Der Bankettsaal ist ein Männersaal. Porträts sehr hoher, hoher und weniger hoher Herren füllen die Wände bis zur Decke. Die meisten von ihnen kannte Von Gotter aus seiner diplomatischen Laufbahn. Er tat sich ein Gutes darauf, etliche Könige darunter zu wissen. Ich entdecke August den Starken und Friedrich den Großen. Diese männliche Anhäufung krönt in den Raumecken der wiederkehrende Umspruch: „Vive la joie“.
Das Silberne Kabinett gehört den Damen. Der Graf widmete es „den Königinnen seines Herzens“. Schöne und nicht ganz so schöne, aber sicherlich kluge Frauen sind dabei. Von ursprünglich 35 Gemälden blieben nur wenige erhalten. Inventaren zufolge sah man im Damenflor auch Maria Theresia, die Große Katharina von Russland und Friederike Sophie Wilhelmine, Friedrichs II. geliebte Schwester.
Am versilberten Deckenstuck wird uns übel mitgespielt. Erfreut man sich nichtsahnend an Affe, Papagei, Pfau und anderem Getier, das im zierlichen Geschnörkel sitzt, so stellt sich ihr Sinngehalt als Anspielung auf angeblich weibliche Eigenschaften heraus: Putzsucht, Geschwätzigkeit, Eitelkeit und andere Zumutungen. Allenfalls den Falken, Symbol der Schlauheit, mag ich hinnehmen.
Der Marmorsaal. Prunk und Pracht und Ausschau in den Garten. Vom Ölgemälde über dem Kamin grüßt ein sympathisch blickender Herr in Jagdkleidung die Besucher des Hauses. Gustav Adolph von Gotter.
Durch das in Grün gehaltene Schlafgemach (der Graf war entweder ein kleiner Mann oder er saß in diesem Bett) zum Konversationszimmer in Rot. Auf dem Deckenbild über dem runden Tisch schweben, raumgreifend, die sieben Künste der Antike und künden vom Goldenen Zeitalter in Wohlstand und Frieden. Gelänge es, durch Nachdenken und ersprießliches Gespräch ein bronzenes Zeitalter herbeizuführen, so wäre schon viel gewonnen.
Beim Passieren weiterer wohn- und feiergefälliger Gelasse überlege ich, ob Horazens Tipp, von Gottern hochgepriesen, „Genieße mit Lust die Freuden dieser Stunde“, vielleicht doch eine nützliche Lebensregel ist.