16. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2013

Solidarische Irreführung

von Ulrich Busch

Eines muss man Theo Waigel, Bundesfinanzminister zur Zeit der Wende und in den Jahren danach, lassen: Er hat es geschafft, allein durch die Wortwahl bei der Benennung zweier Finanzinstrumente für bis heute anhaltende Irritationen und Missverständnisse zu sorgen. Gemeint sind die Begriffe „Solidaritätszuschlag“ und „Solidarpakt“, die seinerzeit aus unterschiedlichen Gründen und für durchaus differierende Zwecke in die Finanzwirtschaft eingeführt worden sind, die aber auf Grund ihrer semantischen Ähnlichkeit für irreführende Assoziationen sorgen, indem sie auf einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen beiden Termini, den es aber nicht gibt, verweisen.
Ob dies von Anfang an beabsichtigt war, also einen politischen Kunstgriff zum Zwecke der Volksverdummung darstellt, oder dem unqualifizierten Gerede einiger Politiker und Journalisten zuzuschreiben ist, soll dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall funktioniert das Verwirrspiel auch nach 23 Jahren immer noch recht wirkungsvoll, wie die unlängst zur Belebung des Wahlkampfes von FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle losgetretene Debatte zeigt. Brüderle trat mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, den Solidaritätszuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer bis zum Auslaufen des Solidarpakts 2019 schrittweise abzuschaffen. Kanzlerin Merkel wies dies völlig zu Recht mit dem Verweis auf die auch noch nach 2019 anstehenden Finanzbedürfnisse des Staates, insbesondere im infrastrukturellen Bereich, umgehend zurück.
Zur Erinnerung: Der Solidaritätszuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer, kurz „Soli“ genannt, wurde 1991 erstmals erhoben. Als Begründung dafür mussten die Mehrausgaben des Bundes für die „Unterstützung der Allianz im Persischen Golf zur Befreiung Kuweits“ herhalten. So steht es jedenfalls im „Finanzbericht des Bundes“ für das Jahr 1991. Eine mit der deutschen Vereinigung in Verbindung stehende Begründung kam schon deshalb nicht in Betracht, weil Kanzler Kohl 1990 definitiv erklärt hatte, dass es im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit „keine Steuererhöhungen“ geben werde. Die Einführung des „Soli“ aber war de facto eine Steuererhöhung, wenn auch eine befristete und aus besonderem Anlass erfolgte.
Nach mehrjähriger Pause wurde die ungeliebte Zusatzsteuer 1995 im gesamten Bundesgebiet erneut eingeführt, diesmal aber unbefristet und ohne besondere Zweckbestimmung. Eine Zweckbindung für die damit getätigten Ausgaben wäre auch praktisch gar nicht möglich und würde zudem den Grundsätzen der Steuererhebung und Staatsfinanzierung widersprechen. Es ist daher unzutreffend, wenn immer wieder behauptet wird, mit dem „Soli“ würde der „Aufbau Ost“ finanziert oder die dadurch eingenommenen Gelder würden als zweckgebundene Finanzmittel in die neuen Bundesländer fließen. Nichtsdestotrotz aber glauben viele Bundesbürger, vor allem Westdeutsche, genau dies und fühlen sich deshalb, wenn sie allmonatlich auf ihren Lohnzettel schauen und hinter dem 5,5-prozentigen Steueraufschlag das Wort „Solidaritätszuschlag“ lesen, dem Osten gegenüber „solidarisch“. Oder besser noch: großzügig und in Geberpose. Die erste Ernüchterung tritt meistens schon ein, wenn sie erfahren, dass auch Ostdeutsche den „Soli“ zahlen, und zwar in gleicher Höhe wie sie. Wofür eigentlich? Als Solidaritätsbeitrag für den Westen?
Wie sich zeigt, erweist sich die seit 1991 immer wieder aufgewärmte Erklärung zur Finanzierung der deutsch-deutschen Solidarität als Legende und schlau ausgedachte Irreführung: Denn erstens gibt es bei steuerlichen Einnahmen keine Zweckbindung für die Ausgaben. Die „Soli“-Einnahmen fließen wie die anderen Steuern auch in den „großen Topf“ des Bundeshaushalts und stehen prinzipiell für alle zu tätigenden Ausgaben zur Verfügung. Dabei ist es völlig egal, ob diese in Ost- oder in Westdeutschland anfallen. Folglich handelt es sich zweitens beim „Soli“ nicht um eine spezielle Sonderabgabe für Ostdeutschland, eine Solidaritätssteuer oder dergleichen, sondern um eine ganz normale und allgemeine Zusatzsteuer für alle Steuerpflichtigen. Und drittens gibt es, was schon Friedrich Nietzsche wusste, in der Ökonomie nunmal „keine Solidarität“, sondern nur „Geschäfte“. Da machen auch die deutsch-deutschen Finanzbeziehungen keine Ausnahme.
Vom „Solidaritätszuschlag“ deutlich abzugrenzen sind die finanziellen Vereinbarungen, die 1993 und 2001 zwischen Bund und Ländern zur Unterstützung Ostdeutschlands getroffen worden sind: der „Solidarpakt I“ und der „Solidarpakt II“. Hierbei handelt es sich um komplexe Finanzpakete, ausgelegt für zehn beziehungsweise fünfzehn Jahre, die mit dem Ziel abgeschlossen wurden, die neuen Länder in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung längerfristig zu unterstützen. Aber auch diese „Pakete“ enthalten keine Geschenke, sondern verkörpern beiderseitige Verpflichtungen und staatsrechtlich verbindliche Abkommen. So umfasste der „Solidarpakt I“ die Zusammenführung der Schulden der Treuhandanstalt, des Kreditabwicklungsfonds und eines Teils der Altschulden der kommunalen Wohnungswirtschaft der DDR im „Erblastentilgungsfonds“. Ferner wurde die Teilnahme der neuen Länder ab 1995 am bis dato nur westdeutschen Länderfinanzausgleich geregelt und es wurden Sonderzahlungen für die neuen Länder und Berlin beschlossen sowie Vereinbarungen zur Investitionsförderung getroffen.
Für die Jahre von 2005 bis 2019 wurde der „Solidarpakt II“ vereinbart. Danach stehen den ostdeutschen Ländern zum Abbau der Infrastrukturlücke sowie zum Ausgleich unterproportionaler Finanzkraft der Kommunen Sonderbundesergänzungszuweisungen in Höhe von insgesamt 105 Milliarden Euro zur Verfügung. Weitere 51 Milliarden Euro sollen für den „Aufbau Ost“ bereitgestellt werden. Die finanzielle Ausgestaltung des „Solidarpakts II“ erfolgt degressiv, das heißt, bis 2019 fließen auf diesem Wege jährlich weniger Mittel an die ostdeutschen Haushalte, ab 2020 keine mehr.
Unterzieht man die Finanzpakte I und II einer inhaltlichen Bewertung, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um Sonderleistungen des Staates für strukturschwache Regionen im Rahmen des föderalen Systems der Bundesrepublik Deutschland handelt. Die Zahlungen belaufen sich dabei im Durchschnitt auf eine Größenordnung von rund 10 Milliarden Euro jährlich. Der „Solidaritätszuschlag“ spült da weit mehr Geld in die Kassen des Bundes: 2013 werden es mindestens 14 Milliarden Euro sein. Das entspricht rund 2,3 Prozent des gesamten Steueraufkommens des Bundes. – Diese Zusatzsteuer sollte beibehalten werden, denn der Staat braucht Einnahmen, aber vielleicht fällt dem künftigen Finanzminister dafür eine weniger irreführende Bezeichnung ein als Solidaritätszuschlag oder „Soli“.