16. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2013

Moses – der Auserwählte

von Ulrike Krenzlin

Am Anfang passiert auf der Bühne ein Mord. Als der Jude Moses einen ägyptischen Aufseher nach der Vergewaltigung einer Israelitin stellt, prahlt dieser: „Die Hündin winselte, als ich sie nahm. Sie troff von meinem Saft.“ Da erschlägt Moses den Frauenschänder. Zwar kommt das Ereignis im Alten Testament vor, aber nicht mit dem Zitat. Geschrieben hat es der wortmächtige Feridun Zaimoglu, der das dritte bis fünfte Buch Moses im Auftrag von Christian Stückl für die Oberammergauer Festspielbühne dramatisiert hat. Das Schicksal des Propheten Moses hielt dort zur Premiere am 5. Juli 2013 Besucher drei Stunden lang in Bann.
Was folgt? Der schuldige Moses muss aus dem Land fliehen. Damit hat der Ziehsohn des Pharao die für ihn vorgesehene Thronfolge verspielt. Es folgen szenische Höhepunkte mit dem Brennenden Dornbusch, den sieben Plagen über Ägypten, dem Auszug von 7000 Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft, ihr Zug durchs Rote Meer und die vierzigjährige Wanderschaft in der Wüste Sinai, der Tanz um das Goldene Kalb, Moses zerschmettert  die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten.
Erst nach langem Ringen entscheidet sich Moses für den Wahnsinnsauftrag seines Gottes Jahwe, das Volk Israel, das seit 500 Jahren in Ägypten lebt, nach Kanaan, in ein weites Land zu führen, wo Milch und Honig fließen. Doch kommen auf den Auserwählten mit Erfüllung seines Auftrags alsbald übermenschliche Herausforderungen zu, denen er sich immer wieder stellt, die ihn aber mit der Zeit an den Rand seiner Kräfte bringen. Viele Jahre besteht er sie. Am Ende aber zerbricht er an den Krisen. Das Gelobte Land erreicht er – auf Gottes Geheiß – selber nicht.
Schon Moses Geburt stand im Todeszeichen. Dem Kindermord entgangen, weil im gepechten Karton am Wasser ausgesetzt, wird der jüdische Findling vom Pharao adoptiert und für dessen Thronfolge aufgezogen. Da der Fremde bei Hofe Misstrauen auslöst, wird er schon als Kind dem Gottesgericht in der Variante mit dem glühenden Kohlebecken unterzogen. Überlebt das Kind glühende Kohlen im Mund, so war bestimmt, ist seine Treue bewiesen, andernfalls muss er sterben. Moses überlebt. Die Thronfolge in Ägypten ist bestätigt. Doch manchmal erstarrt seine Zunge.
Ausgerechnet dieser Stammler ist ausersehen, sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft zu retten. Aus dem Dornbusch in der Wüste kann man sich selbst nicht befreien, sondern gerät dabei tiefer in die Stacheln. Jahwe ruft als Flamme aus dem lodernden Busch, der nicht verbrennt. Wer zum Dornbusch geht, erhört Gottes Botschaft. Moses verbrennt an Haut und Haar, weil er sich beim Zuhören vor der Gluthitze schwer schützen kann. Ein überwältigendes Bühnenbild von Stefan Hageneier. Mindestens acht Feuerwehrleute stehen bereit, um den brennenden Dornbusch in Schach zu halten.
Aus Not hat Moses seinen Gott noch oft anrufen müssen. Zur Gottesbotschaft gehört ihre Vorgeschichte. Das Volk Israel war den Ägyptern lästig geworden. Aus den vor 500 Jahren freudig ins Zweistromland berufenen siebzig Zuwanderern Joseph und seinen Brüdern sind 7000 Israeliten geworden. Zu viele Fremde, keine Assimilierung, Dauerbelastung für das Land, so klagte man bei Hofe. Einen Ausweg suchte der ägyptische Hof mit beispielloser Ausbeutung der Israeliten in den Ziegelbrennereien für den Bau von Monumentalbauten. Doch es wurden immer mehr Israeliten.
Nun folgt Jahwes Rettungsplan. Mit seinem Bruder, dem Hohepriester Aaron, soll Moses beim Pharao die Auswanderung erbitten. Dazu hat Jahwe Moses mit Vollmachten ausgestattet und ihn so zum Propheten erhoben. Er ist nun ein Vermittler zwischen Gott und Menschen, der seinen Stab in eine Schlange verwandeln kann. Manche deuten diese Fähigkeiten als Zauberei. Doch will der Pharao auf die Fremdarbeiter nicht verzichten und lehnt die Auswanderung ab. Darauf schickt Moses im Auftrag sieben Plagen über Ägypten, das blutige Wasser, die quakenden Frösche, die Heuschrecken, die alles auffraßen und viele Krankheiten. Doch bei jeder Rücknahme der Plagen erstarrt das Herrscherherz erneut. Erst die schlimmste Plage hilft. Es ist der Tod aller Erstgeburten an Mensch und Tier. Mit seinem toten Kind im Arm stürzt Stephan Burckhardt als Pharao gebrochen auf die Bühne. Weinend stottert er: „Geht. Jetzt, sofort.“
Die Israeliten ziehen rasch mit Sack und Pack und ungesäuerten Broten in die Wüste. Wie bei einer Wasserkatastrophen-Installation von Bill Viola öffnet sich nun das Rote Meer zum Tor aus zwei hohen wabernden Wasserwänden. Unbeschadet durchschritten wird es von den Israeliten mit Kindern und Tieren. Der Pharao bereut seine Zusage zum Auszug rasch. Als er mit seinen Truppen das Schilfmeer erreicht, fällt die Wasserwand in sich zusammen. Die Verfolger ertrinken.
Selten ist der Tanz um das Goldene Kalb so klar herausgestellt worden auf der Bühne wie von Christian Stückl mit den harten und aufrüttelnden Dialogen von Zaimoglu, bibelnahe aber eigenständig. Auf der Flucht gib es Nöte ohne Ende, Wassermangel, Hunger, Krankheiten, Zank und Streit darum, dass es besser gewesen wäre, bei den ägyptischen Fleischtöpfen zu bleiben. Moses muss sich erneut bei Gott seines Auftrages versichern. Doch bleibt er diesmal zu lange fort. Das Volk wird unruhig und befürchtet Führungslosigkeit. Hohepriester Aaron wird unbarmherzig gedrängt, einen vertrauten heidnischen Gott herbei zu schaffen. Deswegen lässt Aaron das Gold schmelzen und zu einem Kalb formen. Als Gott das Entsetzliche bemerkt, schickt er Moses aus dem Gespräch unverzüglich zurück. Als dieser die heidnischen Exzesse, auf der Bühne eine Wahnsinns-Orgie, sieht, erleidet er einen zerstörerischen Wutanfall und zerschmettert die vom Berg mitgeschleppten Gesetzestafeln mit den zehn Geboten. Es folgt ein grausames Strafgericht. Denn mit einem Volk, das dermaßen in heidnische Gewohnheiten zurück fällt, kann Moses seinen Auftrag nicht vollenden.
Am Ende erhält der junge Joshua den Auftrag von Moses: „Folgt ihm, blickt nicht zurück zu mir – mein Tod ist beschlossen.“ Vierzig weitere Jahre vergehen bis der Menschenzug das Land seiner Väter Kanaan, das Verheißene Land erreichte.Wo das Grab von Moses ist, wissen weder Juden, Muslime noch Christen.
Jahrhunderte lang hat das Schicksal dieses Propheten Künstler in ihren Bann gezogen. Berühmtestes Beispiel ist Michelangelos große Mosesgestalt in Rom. Das geht hin bis zu Sigmar Polke, der gern behauptet, seine künstlerischen Aufträge von „höheren Mächten“ zu erhalten. Solchen Vorbildern folgt auch der Münchner Theatermann und Regisseur Christian Stückl. Er hat die Dramatisierung der Moses-Bücher dem Dichter Feridun Zaimoglu übertragen. Der türkischstämmige Romancier, ausgewiesener Kenner, zugleich auch Provokateur des Islam und Judentums, gilt als einer der besten Gegenwartsautoren deutscher Sprache. Hier arbeitet er mit Günter Senkel zusammen. Beide legen ein ausgezeichnetes Recherche-Textbuch zu den wichtigsten  alten Quellen vor, vor allem jüdischen Legendensammlungen, die zu den Büchern Moses existieren. In unerhörter Klarheit laufen die Geschehnisse des Alten Testaments auf der Bühne ab. Carsten Lück als Moses, Frederik Mayet als Aaron und Stephan Burkhart als Pharao spielen ihre Rollen umwerfend und leidenschaftlich. Eine Trennung zwischen Laien und professionellen Schauspielern  ist kaum auszumachen. Das Volk der Israeliten und der Ägypter stellen Laiendarsteller aus Oberammergau. Hunderte bewegen sich auf der Bühne in Bewegungsarrangements. Hinzu kommen der Jugendchor, Musikverein, Mottenten – und Kirchenchor aus Oberammergau unter Leitung des Komponisten Markus Zwink. Kostüme, die den Glanz der Pharaonen-Kultur wie auch die Leinengewänder, die die Menschen vor dem Wüstenbrand schützen, veranschaulichen, werden in eigenen Werkstätten gefertigt. Eine einmalige Sache. Oberammergau ist seit 200 Jahren zu einem Kunst-Ort geworden, aus dem immer mehr Begabungen hervorgehen.

Moses. Von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel in Oberammergau szenisch ins Monumentalformat gesetzt. Regie: Christian Stückl, Bühne/Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Markus Zwink, Licht: Günther E. Weiß.
Weitere Aufführungen am 8., 9. und 10. August.