16. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2013

Nahe an der Nahe

von Renate Hoffmann

Der Morgen in Bad Sobernheim (zwischen Idar-Oberstein und Bad Kreuznach) beginnt mit Nachtigallengesang und Tau auf den Wiesen der Nahe-Flusslandschaft. Wandergefühle, ähnlich denen von Eichendorffs Taugenichts, stellen sich ein.
Die kleine freundliche Kurstadt belebt, neben anderem, ihre Heilung- und Erholungssuchenden, die Wanderer, Wochenendgäste, Ausflügler, sportliche Naturjünger, Kneippianer mit einer Körper, Geist und Seele erfrischenden Einrichtung, die sogar zur Ausschüttung von Glückshormonen führen soll. Das verspricht ein Barfußpfad von 3,5 Kilometern Länge.
Wirksame Faktoren:
1. Die schönen Auen des Nahe-Tales samt Nachtigallenflötentönen. (Gesang nicht durchgängig garantiert!)
2. Ohne Schuhe und Strümpfe bedenkenlos durch Wasser, Schlamm, über Sand, Rindenmulch, Steine – große und kleine, grobe und feine spazieren.
3. Geschicklichkeitsübungen auf Schwebe-, Dreh- und Wackelstationen.
4. Flussdurchquerung (Wecken von Abenteuergefühlen).
5. Belehrung.
Kurzum: Bewegung in freier Natur mit eventuell auftretenden glücklichen Momenten und Geistesblitzen. Oder: „Licht, Luft, Wasser, Erde“, dass der Mensch gekräftigt werde, wie der „Lehmpastor“ Emanuel Felke (1856-1926) predigte, der seinerzeit, neben seinen Amtsgeschäften, in Bad Sobernheim den Kurbetrieb einführte.
Ordnungsgemäß eingewiesen, mit einem Barfuß-Spezial-Plan für Anfänger versehen; Rucksack festgezurrt, Schuhe verstaut, Jeans aufgekrempelt – so vorbereitet, begebe ich mich auf den Parcours. Gemeinsam mit einer gut gelaunten belgischen Damen-Barfuß-Gesellschaft durchstampfe ich Felkes „Lehmstampfbecken“. Weiche, kühle Gefühle.
Heraus aus dem Schlamm und auf einem Pfad mit listig eingebauten therapeutischen Impulsen (Morgenfeuchte, Rindenmulch) zur Wackelpiste. Wer bislang nicht wusste, wie sicher oder unsicher er auf den Beinen steht, der erfährt es alsbald. Obgleich durch Handläufe gesichert, ist des Schwankens kein Ende. Über Drehtrommeln, auf Schwebehölzern und Zitterbänken balanciere ich, nicht eben elegant, doch tapfer, durch die Wackelei. Genussvoll betritt man hernach wieder festen Boden und passiert, stolz geschwellt, einen weinberankten quasi Triumphbogen. Wahrscheinlich ist dies einer der ersten Glücksmomente.
Die Rindenmulch-Strecken wecken eine neuartige Empfindung: Das Fußgefühl. Außer der obligatorischen Wanderblase, nahm ich die „untere Ebene“ üblicherweise kaum wahr. Nun meldet sie sich blitzschnell, wenn der Mulch zu grob auf die verkümmerten Städterfüße trifft. Wer anschließend ins Wasserbecken steigt, der preist die lindernde Kühle des munteren Baches. Weiterer Glücksmoment!
Es wächst die Aufmerksamkeit. Hoher Schwalbenschrei, Bienengesumse, hastiger Flügelschlag der Enten, Schmetterlinge im Taumelflug. Von fernher weht der Duft blühender Rapsfelder. Mückenstiche.
Die Barfußroute begleitet ein Geologie-Lehrpfad. Er führt durch die Erdgeschichte. Leichfüßig durchmisst man sie. Das Perm (vor etwa 300 Millionen Jahren) formte die Nahe-Berglandschaft. Im Tertiär (vor etwa 65 Millionen Jahren) rauschte ein Meer an den Gestaden. Das Quartär (vor etwa 2,6 Millionen Jahren) hinterließ den Fluss. Nachlesbar auf Tafeln, nachfühlbar beim barfüßigen Voranschreiten über die abgelagerten Gesteine. Zeitweilig lässt die Leichfüßigkeit allerdings etwas nach. Kies und abgeschliffene Flusssteine, verfestigte Gerölle, Sandsteinbrocken, Basalt. Im feinen „Strandsand“ lachen die Füße. Er stammt aus der Zeit, als Sobernheim am Meer lag und sich noch nicht in die Nahe-Landschaft emporgearbeitet hatte.
Auf die Durchquerung des Fließgewässers muss ich verzichten. Der Pegelstand übersteigt die Kniehöhe beträchtlich. Das Abenteuergefühl entfällt! – Entlang dem Ufergrün, von warmen Winden umfächelt, strebe ich dem Ziele zu. Der Barfußpfad-Diensthabende überreicht mir als Siegerehrung (Hier siegt jeder!) ein orangefarbenes Sitzkissen, leicht und zur Winzigkeit faltbar. „Sie werden es zum Ausruhen gut brauchen können, wenn Sie auf den Disibodenberg gehen“, sagt er eindringlich. Dort wollte ich eigentlich nicht hin. Doch wenn er das meint, … dann werde ich mich wohl auf die nunmehr gestärkten Füße stellen und loswandern.