16. Jahrgang | Nummer 15 | 22. Juli 2013

Heidelberg, vom Bergfriedhof gesehen

von Frank-Rainer Schurich

Ein Student aus Heidelberg und das Herz, das ebendort verloren wurde, die Manessische Handschrift mit mittelhochdeutscher Lyrik aus dem 12. und 13. Jahrhundert (daselbst in der Universitätsbibliothek aufbewahrt) – so viele Lieder kennt der Heidelberger Talwind, diese kühle Morgenbrise im Neckargrund, die bei windschwachem Hochdruckwetter erlösende Abkühlung bringt.
„Entdecken Sie Heidelberg!“, ruft mir bei sommerlichen Temperaturen mein Reiseführer mit Insider-Tipps zu: „Eine romantische Stadt voll ansteckender Lebenslust.“ Was aber tun bei diesem Überangebot von Sehens-Würdigkeiten, wenn man nur ein paar Stunden zur Verfügung hat? Eine Heidelbergerin empfiehlt mir den Philosophenweg, von dem sich der schönste Blick auf Stadt, Schloss und Tal biete und auf dem vor mir schon Goethe gelustwandelt sein soll. Ich entschließe mich trotzig für die gegenüberliegenden Berge. Heidelberg von Süden: Der Bergfriedhof.
Der Aufstieg vom Universitätsplatz mit seinem buntsommerlichen Treiben ist beschwerlich, die Stadt bald hinter mir. Auf dem Hoops-Weg bietet sich erst einmal eine schöne Aussicht auf die barocke Altstadt. Die Konkurrenz zur Merian-Kanzel in der Nähe des Philosophenweges. Dass der Friedhof am Berg angelegt werden musste, wird jetzt ganz anschaulich. Die Stadt, eingezwängt zwischen Neckar und steil ansteigendem Königsstuhl, hatte keinen Platz für einen Totenacker im Canyon.
Endlich bin ich da: Jüngere Stadtgeschichte und Grabkultur in einem großen Waldpark mit 30 Kilometer Wegen, verheißt mir mein Reiseführer. Am Eingang keine Orientierungstafel. Doch die Odyssee beginnt mit keiner Irrfahrt: Ein freundlicher Friedhofsmitarbeiter mit einem Elektroauto und einem Sarg auf der Ladefläche bringt mich zur Abteilung G, zum berühmten Juristen Karl Joseph Anton Mittermaier (1787-1867), zu einem der Begründer der modernen Kriminalistik. Ein monumentales Familiengrab mit tudorgotischem Einschlag. Die perlweiße Büste des Meisters leuchtet erhaben im Sonnenlicht. Ich erkenne ihn wieder: Er sieht genauso aus wie auf dem Stahlstich, der in meinem Zimmer hängt.
In der Nähe finde ich das schlichte Grab des Komponisten und Dirigenten Wilhelm Furtwängler (1886-1954). Er hatte zu Lebzeiten das Glück, dass es noch keine Gauck-Behörde gab. Seinen Deal mit den Nazis und mit Herrn Goebbels verzieh man ihm rasch: Schon 1947 durfte er wieder musizieren.
Bald stoße ich auf Hinweisschilder zum Reichspräsidenten Friedrich Ebert (1871-1925). Ein echter Heidelberger, auf den man hier stolz ist. „DES VOLKES WOHL IST MEINER ARBEIT ZIEL“, steht auf dem schlichten Altarcorpus. Nun, die Geschichte weiß anderes zu berichten. In unmittelbarer Nachbarschaft die marmorne Grabanlage des Chemikers Robert Wilhelm Bunsen (1811-1899), den jeder durch den Bunsenbrenner kennt.
Dann fand ich doch noch einen spärlichen Plan: Gustav Radbruch (1878-1949) liegt auch hier. Ein Kollege des Genossen Ebert, 1921-1923 Reichsjustizminister, schon zu Lebzeiten eine Legende, die als erster deutscher Professor 1933 von den Nazis amtsenthoben wurde. Praktiker: Er setzte durch, dass Frauen zum Richterberuf zugelassen wurden. Denker: Der Verlag C. F. Müller in Heidelberg gibt eine zwanzigbändige Radbruch-Gesamtausgabe heraus, in der auch sein wunderbarer, heute noch aktueller Aufsatz über die „Grenzen der Kriminalpolizei“ enthalten ist.
Also unbedingt noch zu Radbruch im östlichen Zipfel des Areals! Gesucht und – nicht gefunden. Gefragt: Radbruch? Keine Ahnung. Und jetzt erst wird mir die Bedeutung des Wortes Berg-Friedhof in seiner vollen Größe bewusst. Das Gräberfeld der sanften Hügel geht zu Ende und der Berg so heftig nach oben, dass die einzelnen Reihen terrassenförmig angelegt sind. Die Friedhofswege als Serpentinen! Der Schweiß rinnt. Höher und höher. Die letzte Reihe, die Hoffnung kurz vor der Aufgabe. Versteckt rechts außen, das Absperrseil schützt symbolisch vor Eindringlingen: Ein kleiner, Kälte ausstrahlender, an keltische Megalithgräber erinnernder Privatfriedhof für den Chemiker und Nobelpreisträger Carl Bosch (1874-1940) und dessen Familie. Und unweit davon das gesuchte Grabmal im heimisch-warmen Rotgrau, davor eine Familienbank, auf der das Namensschild „Radbruch“ angeschraubt ist. Wie an einer Haustür. Ich klopfe an und setze mich.
Und endlich hatte ich mein Herz in Heidelberg verloren …