16. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2013

Der Holländer entsteigt einem riesigen See-Gemälde

von Klaus Hammer

Mit der romantischen Oper  „Der Fliegende Holländer“ habe er ein Werk „heftiger Umkehr“ geschaffen, bekannte Richard Wagner. Die Sage vom fluchbeladenen Kapitän und seiner ewigen Irrfahrt hatte er schon früher in Wilhelm Hauffs „Geschichte von dem Gespensterschiff“ gelesen, aber dann entdeckte er in Heinrich Heines „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“ die ganz ähnliche Geschichte vom Fliegenden Holländer mit einer neuen Variante: Der Kapitän wird durch die Liebe einer Frau erlöst. Dieses Erlösungsmotiv faszinierte Wagner, und wie die Oper nun entstand, das wissen wir: Als er wegen beträchtlicher Schulden zusammen mit seiner Frau Minna Riga heimlich verließ und auf der Schiffsreise  mehrfach in schwere Unwetter geriet, strömten die Melodien für seine Oper auf ihn ein und – so berichtete er später seinem Malerfreund Friedrich Pecht – von „Todesgrauen“ gepackt, schrieb er die Noten in sein Tagebuch. Er glaubte sogar das Gespensterschiff auftauchen und im Dunkeln verschwinden zu sehen. Mit dem „Fliegenden Holländer“ bot Wagner keine herkömmliche Grand Opéra mehr mit einer Reihung einzelner Nummern wie noch in „Rienzi“, sondern ein thematisch-motivisch durchkomponiertes Bühnenwerk, ein symphonisches Ganzes, verbunden durch eine unendliche Melodie, vernetzt mit Leitmotiven, also Tonfolgen, die häufig wiederkehren, um Situationen, Stimmungen und Personen zu assoziieren. Wagner sah sich von nun an nicht mehr als Librettist, sondern als Dichter seiner Dramen, zu denen er die Musik komponiert. Die Uraufführung des „Fliegenden Holländer“ in Dresden brachte ihm die Berufung zum Königlich-Sächsischen Hofkapellmeister ein, und ein Jahr später kam die Oper in Berlin auf die Bühne.
In „Zukunftsmusik“ schrieb Wagner von dem „träumerischen Zustand“, in die der Zuhörer, aber auch Senta versetzt werden sollte, und für „die Kundgebung der inneren Motive der Handlung“ bot sich ihm die Ballade als Strukturmodell an. Davon geht Philipp Stölzl in seiner Neuinszenierung des „Fliegenden Holländer“ zum 200. Geburtstag des Dichter-Komponisten an der Berliner Staatsoper im Schillertheater aus. Er hatte sie schon 2009 in Basel herausgebracht. Schon während der Ouvertüre, die bereits alle späteren musikalischen Motive vorausnimmt, erblickt man eine Fausts Studierstube ähnelnde, aber hier hochherrschaftliche  Bibliothek, die von einem riesigen Seestück eingerahmt wird. Dieses Tableau wird dann die zweite Bühne, das „Bild im Bild“ darstellen, auf der Daland und seine Schiffsbesatzung, aber auch der Fliegende Holländer auf seinem Totenschiff agieren werden. Doch noch während der Ouvertüre huscht das verjüngte Double von Senta durch die Bibliothek, zieht sich einen Folianten heraus und beginnt nun die Sage vom Fliegenden Holländer zu lesen. Abgesehen davon, dass Daland ja ein Handelsmann und kein Gelehrter mit einer so prächtigen Bibliothek ist, ein wunderbarer Einfall, so dass auf zwei Bühnen gespielt werden kann, ohne dass das Bühnenbild wechseln muss. Stölzl hat das Stück ganz ins 19. Jahrhundert verlegt. Senta ist eine Kind-Frau, die sich ihren Holländer zusammenphantasiert. Ihre  Jugendgespielinnen sitzen nicht am Spinnrad, sondern schwirren als Dienstmädchen putzend und staubwedelnd durch den Raum, die Amme Mary führt als stocksteife Gouvernante mit einer Reitpeitsche die Aufsicht und Sentas verschmähter Geliebter Erik, selbst ein hoffnungslos romantischer Tor, hat keine Chance, Senta vor den Ausgeburten ihrer Phantasie zu warnen. Der eigentliche Coup Stölzls besteht aber darin, dass Daland gar nicht daran denkt, sein Versprechen einzulösen, das er dem Holländer gegeben hat, sondern seiner Tochter stattdessen einen alten, abgewrackten  Lebemann mit Jägerhütchen als Bräutigam präsentiert. Senta wird um ihre Sehnsüchte und Hoffnungen, aus dieser banalen Wirklichkeitswelt in eine Traumwelt zu entfliehen, betrogen. Beide, sie und ihr Bräutigam sitzen betrunken nebeneinander, während sich eine wilde Hochzeitsorgie der Dienstmädchen und Schiffsleute – die Mannschaft Dalands und die des Holländers vermischen sich miteinander – abspielt, die in einer Schlächterei endet. Abermals, zum vierten Male,  fühlt sich der Holländer um die Liebe einer Frau betrogen – drei ihrer aufgeputzten Vorgängerinnen hält er im Rumpf seines Totenschiffes gefangen – (warum er aber ständig von dem jungen Double Sentas umworben werden muss, bleibt unerfindlich) und er fährt davon, während Senta in den Tod geht. Ein machtvoller Schlussakkord beendet diese  Mischung von  grausiger Groteske und naturalistischem Familiendrama.
Das mag eine eingängige und erzählerisch in Bildern umgesetzte Idee sei, aber sie greift zu kurz, um das wirkliche Potential dieses Musikdramas auszuschöpfen. Die von Senta gesungene Ballade macht die Dichtung zur Wirklichkeit – denn Senta tauscht den Erzähler in der Ballade gegen ihr „Ich“ aus („Ich sei’s, die dich durch ihre Treu erlöset!“) –, ebenso wie in der nächsten Szene der von ihr „wie im magnetischem Schlaf“ mitgeträumte Traum Eriks in Wahrheit verwandelt und so das tatsächliche Erscheinen des Holländers, also dessen Heraustreten aus dem Bild, vorbereitet wird. Die gesungene Selbstverwandlung Sentas ist wie das Motiv des sich verwirklichenden erotischen Traumwesens ein in Wagners Musikdramen immer neu variiertes poetisches Leitmotiv. Der Holländer sucht die Erlösung im Tod, der ihm aber nur beschieden ist durch die Liebe einer Frau. Senta aber will ihren Traum, ihre Utopie verwirklichen, sie sucht einen Partner, mit dem zusammen sie leben will und der nicht nur durch sie den Tod erhofft. So gehen die Erwartungen der beiden Protagonisten von ganz unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Voraussetzungen aus, ihr Tod wird zur Metapher für die Forderung nach radikaler Veränderung der gegebenen Verhältnisse, ohne die wirkliche Freiheit und Liebe nicht gelebt werden können.
Der britische Dirigent Daniel Harding dirigiert die Staatskapelle stürmisch, forciert vorwärts preschend, aber auch alle leisen, besinnlichen Töne keineswegs vermeidend. Er vermag die romantischen Elemente, die Stimmen der Natur, den nächtlichen Sturm, das Toben des Meeres, die übernatürlichen Kräfte ebenso herauszuarbeiten wie die tragische Liebe. Die sängerischen Leistungen sind ansprechend. Nur zwei Momente, die besonders in Erinnerung bleiben werden: Ekstatisch schwingt sich Sentas Stimme (Emma Vetter) auf zum Schwur ewiger Treue, doch dem folgt kein Frohlocken des Orchesters, sondern ein unheimliches, plötzliches Pianissimo der Holzbläser und Hörner mit tremolierenden Streichern deutet auf das Ungeheuerliche, Uneinlösbare dieses Schwurs. Oder die Vision endlicher Vernichtung tritt in der Holländer-Arie von Michael Volle im Unisono der Singstimme mit den Trompeten und Posaunen machtvoll-ergreifend auf.
Die Musik Wagners noch im Ohr, tritt man zwar nicht unzufrieden, aber auch nicht gerade hochgestimmt, den Heimweg an.