16. Jahrgang | Nummer 11 | 27. Mai 2013

Eine virtuose Inszenierung von Ritualen

von Klaus Hammer

Seit den 1970er Jahren hat er die Nachrichten der Aktuellen Kamera aufmerksam verfolgt und die Zeitungsfotos vor allem aus dem Neuen Deutschland gesammelt: Fahnenübergaben, Ordensverleihungen, Bruderküsse und Umarmungen der Parteiführer, Fähnchenschwenker, Beifallskundgebungen, Vorbeimärsche an Tribünen mit hoher Politprominenz, Parteitage mit brausenden Hochrufen und dem Einzug von Armee-, FDJ- und Pionierdelegationen, Appelle, Militärparaden, Staatsempfänge. Und die dienten ihm dann als Vorlage für seine eigenen Bilder: „Klatscher“, „Klatschender Bauch“, „Fröhliche Jugend“, „Großer Staatsbesuch“, „Republikgeburtstag“, „Brausende Hochrufe“, „Er weiß, worauf es ankommt“, „Orden an die Truppenfahne“, aber auch das Sportmonster, der zum Politikum hochgetrimmte Leistungssportler, der Zähneputzer (alles unter Kontrolle), Szenen aus dem Alltagsleben. Die meisten dieser Bilder standen „mit dem Gesicht zur Wand“ hinter seiner verschlossenen Ateliertür am Prenzlauer Berg und konnten erst nach dem Ende der DDR gezeigt werden.
Hans Ticha, der 1990 von Berlin nach Mainz und drei Jahre später nach Maintal-Hochstadt bei Hanau übergesiedelt ist, hat als Buchgestalter und Illustrator in mehr als 30 Jahren über 90 Bücher ausgestattet und dafür viele Preise erhalten. Jetzt – mehr als 20 Jahre nach seiner letzten Berliner Ausstellung – hat ihn der Galerist Johannes Zielke in den Prenzlauer Berg zurückgeholt und zeigt von ihm Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen aus mehr als drei Jahrzehnten. Was an Tichas meist großformatigen Bildern auffällt, das ist ihre provokant plakative Farbigkeit, die sich meist auf die Grundfarben Rot, Gelb und Blau beschränkt, die Dominanz normgerechter – meist runder – Formen und geometrischer Figuren, gesichtsloser Marionetten mit variablen Gerüststrukturen und symbolischen Versatzstücken, das unproportionale Verhältnis von kleinen Köpfen und großen Körpern beziehungsweise riesigen Händen. Buchstaben und Zahlen werden zeichenartig in die Komposition eingefügt. Zweifellos hat hier der Maler Anregungen von Fernand Léger, des französischen Meisters geometrischer Abstraktionen aus Kuben, Zylindern und Kugeln, der Bauhausmaler, der russischen Konstruktivisten und später der Pop-Art verarbeitet.
Der Künstler – ein Monteur oder Ingenieur, der Automaten, Roboterkörper herstellt; die DDR-Gesellschaft – eine sich leer laufende Maschine, die den Menschen gleichschaltet, ihn seiner Identität und Subjektivität beraubt hat. Scheinbar reibungslos wie ein Uhrwerk funktionieren die menschlichen Beziehungen, alle Leidenschaft ist verbraucht oder in Ritualen – dem Fähnchenschwingen, Beifallklatschen und Hochrufen – verkommen. Ticha geißelt die Konformität der Politik: die leeren Ansprachen und Schlagworte, die Phrasendrescherei, die Versprechungen einer besseren Zukunft. Mit den sich durchdringenden Ebenen und den genauen, sachlichen Raumkörpern sind die typenhaften Figuren mehr um eine dynamische Diagonale konstruiert als um die passive Horizontale oder sie erheben sich zur autoritären Vertikale, sie sollen sozusagen „Umsteigestationen“ vom Gemälde zur Plastik sein.
Tichas Marionettenmann knüpft direkt an George Grosz’ „Republikanische Automaten“ (1920) an, aus deren leeren Eierschalenschädeln ein nicht enden wollendes Hurrageschrei kommt, sie sind eine Null, programmiert und manipuliert. Auch Ticha schafft Gliederpuppen mit Kugelgelenken, die man nach Belieben biegen, verrenken oder austauschen kann.
Rhythmisch bewegte Körper – Arme, Hände, Beine, Füße wirbeln durcheinander („Ballspieler“). Ein Trabrennen mit einem wie aus Baukastenteilen gefertigten Pferd und einem Jockey als Spielfigur im Siegerkranz mit den flatternden Schleifen (hier ist die unnachahmliche Handbewegung des „Siegers“ angefügt), der aber doch nur den zweiten Platz bedeutet („Platz, Sieg, R“, 1974). Ein Rundkörper mit kleinem Kopf und riesigen Händen, die sich im rhythmischen Klatschen bewegen („Klatscher auf orangefarbenem Grund“, 1982/91). Beifallspendende Fähnchenschwenker in unterschiedlichen, sich steigernden Haltungen („Fahnenelemente“, 1982). „For eyes only“, jener DEFA-Agententhriller von 1963, ist zu einer Parodie auf das MfS geworden (1996), während „Die kahle Sängerin“, nach dem Anti-Stück von Eugène Ionesco, die die Banalität und Oberflächlichkeit des Lebens überspielen soll, als plappernde Marionette vorgeführt wird. In gleicher Weise setzt sich Ticha auch mit Erscheinungsformen im wiedervereinigten Deutschland – den Werbekampagnen, Manipulierungspraktiken von Politik und Massenmedien – auseinander.  Ein sauber geteilter Frauenkörper wird zum Schnäppchenpreis angeboten („Ab 20,90“, 2001).
Man mag Tichas Arbeiten nun als Bildparabeln bewerten oder als „Gebrauchskunst“ geringschätzen, in jedem Fall provozieren sie, niemand kann an ihnen unbeteiligt vorbeigehen. Wie sagte der Regisseur und Bürgerrechtler Konrad Weiß 1990 über die Arbeiten von Ticha: „Die Bilder von gestern können meine Kraft von morgen sein“.

Ticha – Malerei und Zeichnungen. Galerie LÄKEMÄKER Johannes Zielke, Prenzlauer Berg, Schwedter Str. 17, Mi – Sa 14-18 Uhr, bis 23. Juni.