16. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2013

Ein kurzer Besuch in Belgrad

von Margit van Ham

Belgrad empfing mich mit einer Enttäuschung. W. hatte noch vor wenigen Tagen geschwärmt, wie er kurzärmlig an der Donau entlang spaziert war, die Sonne genossen habe. Ich war neugierig auf Belgrad, aber ein Empfang mit kaltem Wind und Schneeregen stand nicht auf meinem Plan. Die ersten Eindrücke waren also getrübt, die Stadt mit ihren circa 1,1 Millionen Einwohnern (1,6 Millionen mit Vororten) erschien grau, viele Häuser der Altstadt machten einen sanierungsbedürftigen Eindruck. Ein alter Lift mit metallenen Gittern erinnerte an die vergangene Pracht des Hauses im Stadtzentrum, in dem wir wohnten. Der Blick aus einem der kleinen Fenster der Wohnung ließ dann die erste Enttäuschung weichen. Ein Gewirr von Häusern und Kirchtürmen und dazwischen die Save, überspannt von der eindrucksvoll geschwungenen Gazellenbrücke.
Ein erster Spaziergang zeigt eine lebendige Stadt. Die Menschen auf der Straße haben es eilig, aber das mag auch am eisigen Wind liegen. Ich lerne schnell verstehen, warum die Belgrader sich möglichst weit weg von den Häusern, ja am liebsten mitten auf der Straße, bewegen. Lange Eiszapfen hängen an den gusseisernen Balkonbrüstungen und Dächern und stürzen auf die Bürgersteige.
Wir lassen uns vom Schneeregen in eines der vielen Restaurants in der Skadarlija, der Belgrader Künstler-, Kneipen- und Eventmeile, treiben. Am langen Nachbartisch wird der Namenstag eines Kindes gefeiert. Der Tisch ist voll beladen, man raucht, schwatzt und nimmt sich Zeit mit dem Essen. Das Kind lässt sich vom Kellner unterhalten. An einem anderen Tisch übermitteln Akkordeonspieler musikalische Glückwünsche. Gegen Ende des zweiten Liedes sind Sänger und Akkordeonspieler warm geworden und aufeinander eingespielt – die rauen Klänge vom Balkan haben jetzt in uns aufmerksame Zuhörer gefunden. Der serbische Wein schmeckt und passt zu dieser Einstimmung auf das Belgrader Leben.
Am nächsten Morgen ist die Stadt verschneit, die Sonne scheint – und lässt die Stadt glänzen. Die Laternen tragen weiße Mützen, Tische und Stühle vor den Cafés, wo sich vor wenigen Tagen die Belgrader gesonnt hatten, sind schneebedeckt. Wir sind auf dem Weg zur Festung von Belgrad, dem bekanntesten Wahrzeichen der Stadt. Schöne alte Stadthäuser säumen den Weg und relativieren noch einmal den ersten Eindruck des Vortages. Dass Belgrad keine reiche Stadt ist, sieht man schon. Und seine Geschichte von Krieg endet nicht wie sonst in Europa 1945, sondern ist noch unmittelbar im Gedächtnis. 1999 flogen NATO-Bomber Angriffe auf Belgrad. Davon ist auf dem Weg zur Festung nichts zu sehen, aber auch diese kündet von der kriegbeladenen Vergangenheit Belgrads.
Belgrad war bereits im Mittelalter Zankapfel zwischen dem Byzantinischen Reich, Ungarn und dem Ersten Bulgarischen Reich. Für die Osmanen waren die Eroberung Belgrads und Serbiens notwendige Schritte, um in Mitteleuropa Fuß zu fassen. Am 4. Juli 1456 begann die Belagerung Belgrads durch osmanische Truppen. Die vorher erfolgte aufwendige Neukonstruktion der Festung mit Wassergraben, Türmen, großer Doppelmauer und starken Toren erwies sich als erfolgreich. Die Osmanen konnten die auf einem Hügel, 60 Meter über dem Zusammenfluss von Save und Donau gelegene Festung nicht einnehmen. Unter Johann Hunyadis Führung wurden der im Kampf verwundete Sultan und sein Heer vertrieben. Die Siegesnachricht traf am 6. August 1456 in Rom ein, und Calictus III. ordnete wegen der Bedeutung dieses Sieges für das Christentum das Mittagsläuten an, das bis heute in allen Kirchen der Welt ertönt.
Belgrad wurde schließlich im Jahre 1521 von den Osmanen eingenommen, danach fiel Ungarn, und das Osmanische Reich erstreckte sich bald bis vor die Tore Wiens. Die Osmanen herrschten auf dem Gebiet des heutigen Serbien für die nächsten 300 Jahre. Erst 1867 verließ der letzte osmanische Festungskommandant Belgrad. Die meisten osmanischen Bauwerke wurden danach zerstört und so ist vom ehemaligen orientalischen Flair der Stadt kaum noch etwas zu spüren.
Die Festung ist heute ein Treffpunkt für Liebespaare, nachts werden ihre Mauern von der Flussseite her beleuchtet. Sie sieht so friedlich aus, geradezu romantisch mit den verschneiten Bäumen und Wegen, der Blick auf Donau und Save ist wunderschön…
Ein sehr farbenfroher Kirchturm grüßt und wir gehen, den Gruß zu erwidern. Betende sind in der St. Michael-Kathedrale, wir gucken nur kurz auf die Deckenmalereien, um nicht zu stören. Ein großes Schild untersagt Fotografieren. In der Mitte des Altarraumes stehen ein Priester und ein Pärchen vom Gebet auf – und fotografieren.
Wir ziehen wieder Richtung Stadtzentrum. Es gibt Straßenunterführungen, in denen ein lebhaftes Marktleben stattfindet. Die Preise, die ich sehe – auch in den Gaststätten – liegen nur wenig unter den in Berlin gewohnten. Das Einkommen der Serben liegt allerdings nur bei rund 300 Euro pro Monat. Hinzu kommen Einnahmen aus der Schattenwirtschaft – ein Überleben mit einem einzelnen Einkommen schiene in der Tat unmöglich. 30 Prozent der Serben leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenrate liegt bei 23 Prozent. Die zahlreichen Kavarnas (Cafés) sind dennoch gefüllt. Lebenskünstler.
Das Nationalmuseum am Platz der Republik wird gerade rekonstruiert, und wir verzichten auf den Besuch der geöffneten Münzausstellung. Im Nationaltheater daneben wird Sophokles gespielt. Vor dem Museum steht das Denkmal von Prinz Mihailo Obrenovic, hoch zu Pferde. „Das Pferd“ ist (nach Aussage in Belgrad wohnender Ausländer) der Treffpunkt in der Stadt. Vom Prinzen spricht niemand. Man trifft sich „am Pferd“, um dann eine passende Kneipe zu suchen. Auch wir treffen uns mit britischen Kollegen von W. abends am Pferd. Dort stehen bereits viele junge Leute. Ausstellungstafeln sind aufgebaut, die an serbische Opfer im Kosovo erinnern. Nur wenige sehen sich die Tafeln an diesem Abend an, die meisten Leute lassen sich in ihrer Feierabendlaune nicht stören. Die Kollegen sind überzeugt, dass Serbien bald in der Kosovo-Frage nachgeben werde, um den EU-Beitritt nicht zu gefährden. Wie den Medien jetzt zu entnehmen ist, haben sie sich geirrt.
Der Sonntag ist immer noch kalt, aber die Sonne scheint. Wir spazieren über eine der Save-Brücken und laufen dann am Fluss entlang. Der Weg ist bei den Belgradern beliebt; Spaziergänger, Läufer, Skater und Radfahrer teilen ihn sich. Am Ufer vertäute Schiffe dienen als Gaststätten. Die Betreiber bemühen sich, die überschwemmten Zugänge mit Brettern, Kisten und Hockern irgendwie begehbar zu machen. An den Sträuchern zeigen sich erste Knospen, so habe ich doch noch meinen kleinen Vorfrühling.
Wir laufen wieder zum Stadtzentrum, um uns am Hotel Moskva mit einer serbischen Kollegin zu treffen. Dieses Hotel ist mit seinem alten Plüsch in zwei Etagen, den riesigen Kristall-Leuchtern und der Wiener Kaffeehausatmosphäre ein fast so prominenter Treffpunkt wie das nahe Pferd. Wir wollen die Kollegin einladen. Sie erscheint mit ihrem Freund, und wir fahren in eine ganz andere Gegend Belgrads, um „gut serbisch“ zu essen, wie sie sagen. Es wird reichlich aufgefahren – und wir erleben ein Gespräch, in dem man sich schnell näher kommt – und wunderbare Gastfreundschaft. Nichts wird aus unserer guten Absicht, wir sind eingeladen – und unsere neuen serbischen Freunde lassen es sich auch nicht nehmen, uns zum Flughafen zu bringen. Danke, Jelena und Dejan. Belgrad verabschiedet sich von uns mit viel Wärme.