16. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2013

Nadel und Faden

von Henryk Goldberg

Frau J. hat genäht. Nadel und Faden in der Hand einer Frau sind ja keine große Sache. Frauen tun das schließlich, seit die beiden ursprünglichen Paradiesbesiedler richtig erkannten, es sei womöglich spannender, nicht ständig nackert durch den Garten zu gehen, sondern diesen Zustand besonderen Anlässen vorzubehalten. So schärften ihre Nachfolger ihren Jagdinstinkt und gewannen zwei neue Tätigkeiten hinzu, strippen und nähen. Frau J., wie gesagt, war mit der zweiten befasst. Ich hingegen hätte gut als ein Ausüber der ersten Tätigkeit gelten können, denn ich lag da, bekleidet mit zwei aufregenden schwarzen Socken und einem ebensolchen Schlüpfer. (Von der Anforderung bildlicher Darstellungen bittet die Redaktion abzusehen.) Und was Frau J. da nähte, das war ich. Ich sah sie Nadel und Faden an meinem linken Auge vorbei führen, und es war ein irgendwie merkwürdiger Gedanke, dass sie ihr Nähzeug zum Flicken meiner Wange nutzen würde. Ich meine, eine Wange ist eine Wange, und keine alte Socke von Herrn J. Der ist schließlich selbst verantwortlich für die Löcher in seinen Socken, das Loch in meiner Wange aber hatte Frau J. mit Mutwillen hineingebohrt.
Aber sonst sind sie nett dort. Die Schwester zu meiner Rechten hielt mir, ich lag bereits, ihre Hand entgegen, und ich fragte mich, ob sie sich jetzt wohl vorstellen wolle und ob ich mich dabei aufzurichten habe. Nein, ich dürfe ihre Hand halten und wenn die Spritze schmerze, dann dürfe ich sie, die Hand, ganz doll drücken. Ich bin nicht ganz sicher, was gewonnen ist, wenn zwei Menschen Schmerzen haben und aus purer Angeberei drückte ich die Hand erst, als die Spritze schon lange abgedrückt war. Hat bestimmt mächtig Eindruck gemacht, dachte ich, harter Typ das, denken die jetzt. Aber so mächtig wohl doch nicht, denn die beiden Damen fassten mich, das Loch war zu, vorsichtig unter den Armen, und Frau Dr. J. sagte aufmunternd: „Versuchen Sie einmal vorsichtig, sich aufzurichten.“ Dann durfte ich selbstständig ein ganzes Glas Wasser trinken, sorgfältig beobachtet, sodann halfen die Damen mir sanft von der Liege, tupften mir den Schweiß von der Stirn und sprachen sehr langsam und sehr deutlich mit mir. Es muss die souveräne Männlichkeit meines Auftretens gewesen sein, die sie bewog, mich allein ankleiden zu lassen. Vielleicht war es auch nur ein Test, ich habe ihn bestanden. Nee, das war schon ein richtig gutes Training, mentalmäßig. So wird es einmal sein, wenn ich Kunde beim Facharzt für Geriatrie bin, und dann hört es nie mehr auf. Bis es aufhört natürlich.
Aber vielleicht hatten sie auch recht mit ihrer Fürsorge. Am folgenden Morgen nämlich zwei Stunden Ergometer, fit for readers, und dann natürlich, wie der Trainingswissenschaftler sagt, Schwitzen wie ein Schwein. Und also tun, was man immer tut danach: Klamotten runter, mit einem Handtuch trocken rubbeln. An der linken Kopfseite ein kleiner Widerstand, also etwas fester rubbeln. Als es mir einfiel, war es zu spät, es war das Pflaster über der Naht. Au weia, das gibt Ärger mit Frau J. Pflaster sollte im Medizinschrank sein, aber da war kein Pflaster. Doch meine Schwester hatte mir – ha, ha, selten so gelacht! – zum letzten Geburtstag ein sogenanntes Notfallset mit Telefonnummern, Tabletten und solchem Zeug geschenkt. Pflaster eben auch. Mit dem Notfallpflaster habe ich nun das Ursprungspflaster befestigt, es hält. Aber morgen muss ich zu Frau Dr. J., Verband wechseln. Sie wird es bemerken und mich sehr kritisch anschauen.
So weit mein Erfahrungsbericht über Senioren in den Klauen der modernen Apparatemedizin und deren mentale Folgen.