16. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2013

Wettbewerbs-Streiflichter

von F.-B. Habel

Mancher meint, dass „der Dieter“, also Berlinale-Chef Dieter Kosslick, längst seinen Zenit überschritten hätte. Doch auch in diesem Jahr findet man in der Königskategorie, dem Wettbewerb, unter seiner Leitung immer wieder Filme, die gesellschaftliche Probleme anreißen oder sogar schmerzliche Wunden offenbaren. Dass viele Filme des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren weder einen Verleih fanden, noch im Fernsehen gesendet wurden, gereicht Kosslick und seinen Mitarbeitern – nicht aber den Programmredakteuren – zur Ehre.
Die 63. Berliner Filmfestspiele waren bei Redaktionsschluss noch im Gange, und wir können nur ein Streiflicht auf den Wettbewerb werfen. Insgesamt scheint die Jury unter dem Hongkong-chinesischen Regisseur Wong Kar Wei aber ein eher mittelmäßiges Programm begutachten zu müssen.
„Eine Episode aus dem Leben eines Schrotthändlers“ von Danis Tanovic ist allerdings ein bemerkenswerter Film, der das aktuelle Problem von mangelnder Versicherung und hohen Kosten medizinischer Behandlungen aufgreift. Der Film aus Bosnien-Herzegowina hat keine Stars. Eine Roma-Familie spielt ihr Schicksal selbst. Es ist der unerhörte Fall von Senada, Mutter zweier Töchter, deren drittes Kind in ihrem Leib stirbt. Wenn es nicht durch eine Operation entfernt wird, muss Senada sterben, aber die Operation kann die Familie nicht bezahlen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Regisseur Tanovic, der seinen Film mit wenig Geld improvisierte, sieht in seinem Stoff wohl nicht zu Unrecht eine Allegorie auf die bosnische Gesellschaft.
Nur vordergründig griff der Amerikaner Steven Soderbergh ebenfalls ein medizinisches Problem in seinem Film „Nebenwirkungen“ (Side Effects) auf. Offenbar unter Einfluss von Psychopharmaka hat eine junge Frau ihren Mann getötet. Sie litt unter Angstzuständen, und ihr Psychiater wird nach der Tat in einen Strudel von Ereignissen gerissen, die seine Existenz gefährden. Jude Law, Rooney Mara und Catherine Zeta-Jones machen den spannenden Krimi sehenswert, wenngleich das Motiv der zweifelhaften medizinischen Behandlung in den Hintergrund gedrängt wird.
Deutlicher an seinem brisanten Thema blieb „Das gelobte Land“ (Promised Land), für den sich Matt Damon stark engagierte. Er war als Produzent und Autor daran beteiligt und spielte unter Gus van Sants Regie die Hauptrolle. Hier geht es um die Nutzungsrechte an bisher landwirtschaftlich genutzten Flächen in der US-amerikanischen Provinz, um durch das umstrittene Verfahren des „Fracking“, bei dem Mensch und Natur in Mitleidenschaft gezogen werden können, Erdgas zu gewinnen. Bei allem Engagement und schauspielerischem Einsatz geschah in dem Film doch zu wenig, so dass das allgemeine Interesse schon vor dem überraschenden Schluss abnahm.
Der dritte amerikanische Wettbewerbsfilm, „Der notwendige Tod von Charlie Countryman“ (The Necessary Death of Charlie Countryman, Regie Fredrik Bond) sprach die Zuschauer an, die schnelle, wie im Drogenrausch gedrehte Filme mit beliebten Stars (Shia LaBeouf, Mads Mikkelsen, Rupert Grint, Til Schweiger) in schmuddeliger osteuropäischer Umgebung (Bukarest) mit Verfolgungsjagden im Trabant-Kombi lieben, aber Bären-Chancen dürfte er nicht haben.
Mit dem deutschen Film scheint Dieter Kosslick arg in Bedrängnis zu sein. Bestimmte Titel bekommt er nicht, weil Cannes und Venedig sie ihm wegschnappen. Während deutsche Filme in anderen Sektionen gut vertreten waren (wenn auch hier keiner dabei war, dem man Bären-Chancen eingeräumt hätte), stellte Thomas Arslan mit seinem „Gold“ die einzige rein deutsche Produktion im Wettbewerb vor. Mit einem Mini-Budget in Kanada gedreht, erzählt Arslans Film von einer Gruppe deutscher Einwanderer, die am Ende des 19. Jahrhunderts zu den Goldfeldern von Dawson aufbricht. Aber nicht das unvollkommene Budget, das beispielsweise an Zwischenschnitten sparen ließ, war das Hauptproblem, sondern, wie die Geschichte erzählt wurde. In dem im trägen Stil der „Berliner Schule“ gedrehten Werk erfährt man von den Figuren herzlich wenig, zwischen ihnen stellt sich kaum Spannung ein, Nina Hoss in der Hauptrolle darf immer nur einen Ausdruck zeigen, und der Film zieht sich so müde hin, wie die ganze Expedition. Er ist übrigens von Fernsehanstalten koproduziert worden, so dass man sich jetzt schon auf einen sehr geruhsamen Fernsehabend freuen kann.