16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Von den Genen zu den Bienen

von Franz Schandl

Ehrlich gesagt, man erwartet ein anderes Buch. Es wird nicht geboten, was der Titel verspricht. Wenn überhaupt beschreibt Richard Sennett mehr die technischen Aspekte der Kooperation als deren Struktur und Geschichte. Kaum etwas lesen wir über den Zusammenhang von Koordination und Kooperation, von Vorhaben und Ergebnis, von Plan und Erfüllung, von Hierarchie und Ablauf, von Allokation und Verwertung, Arbeitsteilung und Kommando, Freiwilligkeit und Disziplin. Rein gar nichts finden wir zu Netzwerk oder Synergie.
Viel Wissen türmt sich auf, es verfestigt sich allerdings nicht zu einer innovativen Analyse. Man hat das Gefühl, fast alles anderswo schon fundierter präsentiert bekommen zu haben. Sennett plaudert viel. Sprungartig führt der Weg vom alten Konflikt zwischen Lassalleanern und Marxisten über die amerikanische Tea Party zu den Versäumnissen der britischen Labour Party nach den Unterhauswahlen 2010. Des öfteren schleicht sich die Frage ein: Warum erzählt er dieses und nicht jenes?
„Kooperation ist in unseren Genen angelegt“, behauptet Sennett. Zwanzig Seiten später heißt es jedoch: „Kooperation ist eine mühsam erworbene und keine gedankenlos erlebte Erfahrung.“ Also was nun? Die Begriffsbildung ist durchgehend schlampig. „Kooperation lässt sich nüchtern definieren als Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“, schreibt er. Und: „Mit ,Austausch‘ ist hier die Erfahrung des Gebens und Nehmens bei allen Tieren gemeint.“ Doch der beständige Stoffwechsel ist nicht einfach als Austausch zu fassen. Der Tausch ist eine spezifische historische und nicht überhistorische Form der Transaktion. Jene ist im Tierreich absolut nicht gegeben und auch im Menschenreich nicht stets die Regel, einzig in den kommerziell kodifizierten Geschäften obligat.
Richard Sennett klärt seine Begriffe nicht, sondern setzt sie gleich dem gesunden Menschenverstand als gegeben voraus. Skepsis gegenüber der Sprache ist seine Sache nicht, vieles ist terminologisch grob geschnitzt. Er verwechselt etwa den Egoismus schlichtweg mit dem Individualismus, nur so kann er festhalten, „dass Kooperation heute gegenüber dem Individualismus nicht viel Gewicht auf die Waage zu bringen vermag.“ Dito wird Konkurrenz (über die man in diesem Zusammenhang auch mehr hätte schreiben können) unmittelbar als Gegnerschaft dechiffriert. Indes, nicht jede Aversion mündet in Konkurrenz und nicht jede Konkurrenz rührt aus einer Aversion. Im Gegenteil, viele Konkurrenzverhältnisse müssen die Aversion erst als Form entwickeln, da sie als vorgängiges Motiv gar nicht vorhanden ist. So etwa in der Konkurrenz um ein und denselben Arbeitsplatz. Wir sind nicht Konkurrenten, weil wir Gegner sind, sondern wir werden zu Gegnern durch die Konkurrenz.
Termini wie „soziale Insekten“ oder „natürliche Kooperation“ sind äußerst fragwürdig. Sie konstruieren doch sehr einfache Vergleiche und saloppe Unterstellungen. Die ständigen Ausflüge ins Tierreich sind überhaupt jenseitig: „Die Nazis kannten keine persönliche Scham, die das Tier in ihnen hätte im Zaum halten können“, schreibt Sennett. Von „Naziwölfen“ ist gar die Rede. Warum müssen immer die armen Tiere für die Nazis herhalten? Lässt sich damit was erklären? Ist es nicht äußerst bequem, die menschliche Destruktivität im Tierreich zu verorten? Warum Wölfe beleidigen? Was immer Wölfe so anstellen, sie betreiben keine Ausrottungspolitik und sie bauen keine Vernichtungslager.
Kooperation ist durchdrungen von der Reflexion und sie denkt sich vom Ergebnis her. Sie behauptet zumindest zu wissen, was sie will und sie will es gemeinsam bewerkstelligen. Konstruktives Verhalten im Tierreich ist hingegen Folge existenzieller Instinkte und nicht Konsequenz überlegter Kooperation. Da Sennett ausgerechnet die Biene bemüht, bemühen wir Karl Marx, der das ebenfalls getan hat: „Eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister“, schreibt dieser im Kapital: „Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss.“
Doch auch Sennett weiß: „Bienen beschließen nicht zu tanzen – der Drang danach liegt vielmehr in ihren Genen.“ Eben. Tiere verhalten sich zueinander weder sozial noch asozial. Was uns als sozial erscheint, ist lediglich eine Projektion, die menschliche Verhältnisse auf das Tierreich überträgt. Aus einer Betrachtung wird eine Voraussetzung, die dann zur Natur verklärt und somit jenseits der Kritik angesiedelt wird. Gegen die artenübergreifende Definition der Kooperation gilt es entschieden Einspruch einzulegen.
Nur Menschen verfügen über die Organisation der Organe, so gesehen ist der Mensch auch mehr als ein soziales Tier. Kooperation ist jenseits instinktiver Äußerungen, selbst wenn jene bei diesen Vorlagen findet. Jede Operation, das sagt schon das Wort, führt doch einen Plan aus oder hat zumindest ein Vorhaben in sich, von der Chirurgie bis zur Mathematik, von der Logistik bis zum Militär. Kooperation ist von strategischer Anlage gezeichnet. Keine Operation ohne Operationalisierung! Warum sollte das ausgerechnet für die Ko-Operation nicht gelten?
Wenn wir Kooperation historisch betrachten, dann ist sie eine ganz besondere Kombination menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten. Kooperation ist Ausdruck gesellschaftlicher Zwecke und Zwänge, nicht a priori angelegt und als natürliche Entfaltung der Evolution vorgegeben. Kooperation ist zusammenhängende Praxis, die nicht nur objektiven Notwendigkeiten folgt, sondern diese auch umfassend interpretiert und strukturiert. Unter ihr wäre mehr als eine rationelle Arbeitsteilung zu verstehen, denn diese kodifiziert Kooperation ja einseitig nach kommerziellen Kriterien.
Die Kooperation, wie wir sie heute kennen, ist allerdings die dienstbare Schwester der Konkurrenz. Kooperation ist nicht deren Gegenteil, sondern deren Bestandteil. Keine Konkurrenz könnte ohne Kooperation bestehen. Umgekehrt jedoch gilt das nicht. Kooperatives Handeln jenseits des kommerziellen Profits ist sehr wohl möglich. Die stoffliche und zwischenmenschliche Seite der Kooperation reicht über den schwer lastenden Aspekt der Verwertung, des Sich-verkaufen-müssens, hinaus. Kooperation ist nicht reine Ökonomie, auch wenn sie in der industriellen und bürokratischen Arbeitsteilung primär als solche auftritt. Das wäre eigentlich der Punkt, wo man ansetzen könnte. Sennett hingegen geht davon aus, dass Kooperation und Konkurrenz lediglich austariert werden müssen. „Das beste Gleichgewicht zwischen Kooperation und Konkurrenz besteht in der Mitte des Spektrums.“ Ein Satz wie von einem Politiker.

Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hanser Verlag, Berlin 2012, 414 Seiten, 24,90 Euro