16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Vermaledeites Gedächtnis

von Frank Ufen

Vor 150 Jahren hat der französische Mediziner Alfred Maury etwas Merkwürdiges erlebt. Eines Nachts träumte er, dass er zur Zeit der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution zum Tode verurteilt wurde und das Schafott besteigen musste. Schließlich hörte er, wie das Fallbeil hochgezogen wurde und auf sein Genick niedersauste. Im selben Moment, als er spürte, wie sein Kopf vom Rumpf getrennt wurde, wachte er schweißgebadet auf – und stellte erleichtert fest, dass ihm ein Brett aus der Holzverkleidung seines Bettes auf den Nacken gefallen war.
Dass ein Traum so erlebt wird, als ob das Ereignis an seinem Ende stünde, das ihn offensichtlich erst ausgelöst hat, kommt ziemlich häufig vor. Diese sonderbare Umkehrung der Chronologie ist immer noch nicht völlig geklärt. Weniger sonderbar ist ein anderer Verstoß gegen die zeitliche Ordnung: Wenn man aus einem Traum erwacht und versucht, ihn zu rekonstruieren, erinnert man sich meistens zuerst an die Schlussszenen, Danach bewegt man sich immer weiter rückwärts und kommt dem Anfang der Geschichte immer näher. Dieses zeitliche Durcheinander – vermutet der niederländische Gedächtnisspezialist und Psychologiehistoriker Douwe Draaisma – könnte eine der Ursachen für ein nach wie vor rätselhaftes Phänomen sein: Obwohl Menschen Tag für Tag mehrere Stunden träumen, behalten sie davon nur einen verschwindend geringen Teil im Gedächtnis.
Die Erklärung, mit der der deutsche Philosoph Ludwig Adolf von Strümpell im späten 19. Jahrhundert aufwartete, hat nach wie vor einiges für sich: Traumbilder würden selten tiefere Spuren im Gedächtnis hinterlassen, weil sie zu blass, zu flüchtig oder zu verworren seien, weil sie sich nicht wiederholen würden – und weil sich die meisten Menschen kaum mit ihren Träumen beschäftigen würden.
Durch Experimente ist kürzlich zu Tage gekommen, dass während der Traumphasen ausgerechnet diejenigen Gehirnareale abgeschaltet sind, die die Aufgabe haben, Informationen zu speichern. Dieser Befund wirft allerdings die Frage auf, warum man sich trotzdem gelegentlich an Träume erinnern kann. Hinzu kommt, dass andere Wissenschaftler zu der Erkenntnis gelangt sind, dass Träume gerade dazu dienen sollen, vorläufig gespeicherte Informationen ins Langzeitgedächtnis zu überführen.
Wieder andere Wissenschaftler sind der Auffassung, dass das schlafende Gehirn sich nachts des Informationsmülls entledigen würde, der sich tagsüber angesammelt hat. Diese Entrümpelungsaktionen würden sich in den Traumerlebnissen niederschlagen.
Schließlich gibt es noch die Hypothese, dass die rechte Gehirnhälfte gefühlsbeladene Traumbilder erzeugen würde, wohingegen die linke dafür zuständig sei, zwischen ihnen einen Zusammenhang herzustellen und das Ganze zu versprachlichen. Weil bei dieser Übersetzung viele Informationen verloren gingen, würde von den Träumen in der Erinnerung fast nichts übrig bleiben. Doch dass eine solche Arbeitsteilung überhaupt existiert, gilt mittlerweile als fragwürdig. Allerdings glaubt auch Draaisma, dass Träume in erster Linie deshalb so schlecht im Gedächtnis haften bleiben, weil sie im Wesentlichen aus Bildern bestehen.
Ob es sich nun um das Alzheimer- oder das Korsakow-Syndrom handelt, um das totale Vergessen der ersten Jahre der Kindheit, um den Umstand, dass autobiografische Erinnerungen unaufhörlich umgeschrieben und überschrieben werden, oder um das Phänomen der Kryptomnesie (jemand eignet sich eine fremde Idee an und hält sie nach einiger Zeit für seine eigene) – Douwe Draaisma befasst sich in seinen neusten Buch mit nahezu allem, was mit Erinnern und Vergessen zu tun hat. Sein überraschendes Fazit: Ein gut funktionierendes Gedächtnis setzt voraus, dass das Gehirn imstande ist, ungeheuer viel zu löschen.
Draaisma ist ein großer Geschichtenerzähler. Deswegen sind seine hochgelehrten Ausführungen gut zu verstehen. Eines der besten und schönsten Bücher über das Gedächtnis überhaupt.

Douwe Draaisma: Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Galiani Verlag, Berlin 2012, 351 Seiten, 19,99 Euro