16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Und ewig lockt das Weib …

von Klaus Hammer

Sie ist der Inbegriff der erotisch-faszinierenden, dämonisch-destruktiven Frau, die als Siegerin aus dem Kampf der Geschlechter hervorgeht. Die Femme fatale, die „verhängnisvolle Frau“, repräsentiert einen vielfach variierten, modernen Weiblichkeitsmythos, der in der Romantik aufkam, in der Epoche des Naturalismus und Symbolismus seine typischste Ausprägung fand und bis in unsere Zeit fortwirkt. Die Figur der dämonischen Verführerin steht in der Tradition historischer und mythischer Frauengestalten wie Salome, Dalila, Venus, Medusa, Sphinx, Undine, Lorelei, Hexe und Vampir. Die außergewöhnliche Wirkungsgeschichte dieses Frauenmythos in der Dichtung, Malerei und Musik des 19. Jahrhunderts ist psychoanalytisch als ambivalenter Ausdruck männlicher Sexualängste und –wünsche, aber auch als imaginäre Reaktion auf den als Bedrohung empfundenen neuen Emanzipationsanspruch der Frau gedeutet worden. Mit dem Paradigmenwandel im Rollenverständnis der Geschlechter dient in unserer Epoche das Muster der Femme fatale dazu, sowohl weibliche Stereotype oder Gender-Klischees ironisch zu hinterfragen als auch weibliche Erotik neu zu definieren, aus einer Männerfantasie wird sie zu einem Identifikationsmuster für selbstbewusste Frauen.
„Im Flanieren durch Jahrhunderte“ sucht der Münchner Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker Joachim Nagel die Vorstellungswelt und Rezeptionsgeschichte dieses so schillernden Topos in der bildenden Kunst, in der Literatur, auf der Bühne, im Film und in der Fotografie zu entfalten. Inszenierte Weiblichkeit also. Es ist ein Bildband zum Blättern, der optische Reiz dominiert gegenüber dem Kommentar, der sich auf eine immanente Darstellung und knappe Bilderläuterungen beschränkt. Aber auch die bilderreiche Sprache des Autors ist ein Lesevergnügen besonderer Art. Joachim Nagel wollte das Thema aufarbeiten und Interesse erweckend präsentieren, strebt aber keine eigenständige Forscherleistung an.
Doch er hat schon genug damit zu tun, die riesige Stofffülle zu bändigen, der vielen Neben- und Seitenbezüge, Assoziationen und Verbindungen Herr zu werden. Und so ist es ihm in der Tat gelungen, ein letztendlich doch überschaubares Darbietungssystem zu erarbeiten, das die Lektüre zu einem gewinnvollen, nachdenklichen Genuss werden lässt.
Nagel geht bis in die Bibel zurück, bis zu Lilith, Adams mythenumwobener ersten Frau, die als Urform des verführerischen weiblichen Bösen galt. Auch zwei biblische Verräterinnen erfahren eine Erhöhung ins Exemplarische: Delilah, die ihrem Mann Samson Haupthaar und Kraft raubt, und Judith, die den assyrischen Feldherrn Holofernes enthauptet und so ihre Stadt Bethulia rettet. Erschien Judith auf Gemälden Cranachs, Giorgiones, Tizians oder Veroneses noch als Inbegriff weiblicher Anmut, rückte später das „Enthauptungsspektakel“ in den Mittelpunkt, Friedrich Hebbel sieht in seinem Drama „Judith“ (1840) in der Ermordung Holofernes’ einen persönlichen Vergeltungsakt der jungfräulich gebliebenen Witwe, während für Gustav Klimt und die Künstler des Fin-de-Siècle Judith dann schon in die Nähe Salomes gerät. Beziehen sich mittelalterliche Darstellungen noch auf den reißerischen Bericht vom Tanz der Salome vor König Herodes im Neuen Testament, so rückte von der Renaissance ab Salome mit dem Haupt des Johannes oder in Gesellschaft des Henkers und seiner Schergen in den Vordergrund, und in der Malerei des Symbolismus dominierten ganz die Erotik des Tanzes und die dämonischen Züge der Salome.
Ob weibliche Herrschergestalt wie Salome (bei Oscar Wilde, A.V. Beardsley, Richard Strauss) oder männerverderbende Verführerin wie Lulu, das „wilde, schöne Tier“ (in Frank Wedekinds Lulu-Dramen), stets ist die Femme fatale als Frau Außenseiterin, deren fundamentales Anderssein die Bedingung ihrer Existenz und ihres unheilvollen Charmes ist. Als verehrungswürdige Madonna und verabscheuenswerte Hure und Vampir hat sie dann Edvard Munch dargestellt. Von der Staffelei der Maler wechselt die Femme fatale bald ins Scheinwerferlicht des Kinos, wo sie nun als Vamp, aber auch als Sex-Star und skandalumwitterte Diva agiert. Asta Nielsen wurde zu einer dämonischen Lulu, Greta Garbo zu einer rätselhaften Sphinx, Theda Bara glänzte als Cleopatra, Marlene Dietrich verkörperte das Idealbild des blonden Vamps, Brigitte Helm mutierte in „Metropolis“ zum künstlichen Maschinenwesen, dessen Lächeln das Blut in den Adern gefrieren lässt. Mit hocherotischen Tanzdarbietungen wird dann Anita Berber die Grenzen zum Obszönen und Dämonischen ausloten, Tamara de Lempicka Körperskulpturen im Art-Déco-Stil malen, und in den Traumwelten der Surrealisten erscheint die Frau als irrlichterndes Vexierbild, oft nur halb menschliches Phantom. Die Filmdiven von Hollywood paradieren als selbstbewusste, sinnliche Geschöpfe im Abendkleid und gehen unbeirrbar ihren Weg – auch über Männerleichen, in Frankreich bringt Brigitte Bardot ihren Sex-Appeal zur Wirkung und Jeanne Moreau gibt die Frau in extremen Handlungen als Mysterium. Schließlich demontiert die Amerikanerin Cindy Sherman auf Fotografien Frauenfiguren aus Kinomelodramen durch konsequente Aneignung und gezielte Brüche. Je mehr er sich der Gegenwart nähert, gilt das Interesse des Autors fast nur noch den Medien Film und Fotografie, während doch gerade in Kunst und Literatur viele Veränderungen dieses Topos zu entdecken gewesen wären.
Dennoch: Ein exzellent aufbereiteter Text-Bild-Band von hohem Anschauungs- und Wissenswert.

Joachim Nagel: Femme fatale. Faszinierende Frauen, Belser Verlag, Stuttgart 2009, 128 Seiten, 24,95 Euro