16. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Februar 2013

Ricarda Huch sehnte sich nach Nescafé

von Ulrich Kaufmann

Ein Autorenduo tritt erstmals an die Öffentlichkeit: Barbara Kösling, vormals in einem Jenaer Glaswerk beschäftigt, und der Historiker und Kunstwissenschaftler Christian Hill hatten sich vor Jahren im Otto-Schott-Archiv kennengelernt. Schott ist einer der Protagonisten dieses Buches. Der berühmte Glasmacher gehörte neben Luther, Weigel, Schiller und Walter Dexel zu jenen Persönlichkeiten, die Jenas Ruhm weit über das Saaletal hinaustrugen. Die Genannten werden – stellvertretend für ihr Jahrhundert – jeweils in einer „biographisch-kulinarischen Skizze“ vorgestellt, die eigens auf graues Papier gedruckt wurde. Julia Tripke bereicherte die Skizzen durch witzig-geistreiche Illustrationen, die die Porträtierten beim Essen oder Trinken zeigen. Etliche Fotos, Faksimiles und Holzschnitte, die das Jenaer Stadtmuseum beisteuerte, lassen das Buch insgesamt zu einem Genuss werden. Und nicht zu vergessen: Eine Vielzahl von Thüringer Rezepten aus einem halben Jahrtausend wird verfügbar gemacht.
Kösling und Hill nehmen uns auf eine kulinarische Reise durch Jenas Geschichte mit. Gemäß dem Motto „Kochen ist eine Kunst und keineswegs die unbedeutendste!“ erfährt der Leser von den Ess- und Trinkgewohnheiten seit dem 16. Jahrhundert. Die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens wird vor dem Hintergrund der allgemeinen wie der lokalen Historie erzählt. Im Part zum 16. Jahrhundert werden wir daran erinnert, dass der Wittenberger Reformator im „Schwarzen Bären“ mit Studenten reichlich Gerstensaft genoss, den Jenaer „Essig an Rebenstöcken“ indessen eher mied. Im Jahrhundert Luthers beherbergten die Arkaden am Jenaer Markt die „Brot- und Fleischbänke“. (Der Marktplatz, lange die „gute Stube“ der Stadt, wurde im 19. Jahrhundert mehr und mehr zur „feuchten Ecke“.) Das Bedürfnis nach guten Speisen und Getränken nährte viele Handwerker. Holzstiche „erzählen“ von Köchen, Bierbrauern, Rebmännern und Bütnern (Fassmachern).
Mancher Jenaer Professor profitierte im 17. Jahrhundert mehr vom Bierausschank als von seiner Lehrtätigkeit. Und nicht wenige Studiosi waren auch deshalb auf dem Wege, sich den Ruf als Rauf- und Saufbolde zu erringen. Ausgiebig wurden Doktorprüfungen gefeiert. Einen „Doktorschmaus“ haben die Autoren akribisch protokolliert.
Der nicht so reiche, nikotinabhängige Geschichtsprofessor Schiller, dessen Hingezogenheit zum Geruch faulender Äpfel durch Goethe publik wurde, bevorzugte einfache „Butterbrodgesellschaften“. Sein berühmtes „Punschlied“, von Rappern längst entdeckt, ist Gedicht und Rezept in einem. Für Eilige sei, zumal in der kalten Jahreszeit, gleich auf die Seite 78 verwiesen!
Das Kapitel zum 19. Jahrhundert erzählt von einer ersten Blüte der Jenaer Kaffeehäuser. Geschildert wird ebenso, wie der Altkanzler Bismarck zum Bier stand, das er 1892 nach seiner halbstündigen Rede auf dem Jenaer Markt reichlich genoss. Wesentlicher vielleicht ist, dass der Unternehmer Schott, für den Gemeinnutz weit über Eigennutz stand, gern mit seinen Arbeitern bei Bratwurst, Kartoffelsalat und Bier feierte.
Auch das 20. Jahrhundert mit Kaiserzeit, Weimarer Republik, Drittem Reich, geteiltem Deutschland bis zur „Wende“ bietet ausreichend Stoff zum Thema Esskultur. Ende der zwanziger Jahre hatte Jena beispielsweise 20 Cafés, 1966 gab es am gleichen Ort deren vier. Auch von „Hitlerbutter“, von verordneten Eintöpfen und der Sehnsucht Ricarda Huchs nach Nescafé ist die Rede.
Ostalgiker werden sich gern an eine „Moskauer Soljanka-Sahne-Zitrone-Weißbrot“- Speise erinnern. Diese Köstlichkeit konnte man zum schlanken Preis von 1,55 Mark im „Kulturhaus“ in der „Straße des 7. Oktober“ zu sich nehmen.
Kurzum, hier ist ein gut geschriebenes, bildendes und unterhaltendes Lese- wie auch Sachbuch anzuzeigen. Für die Qualität des kulturgeschichtlichen Textes verbürgt sich der Schreiber dieser Zeilen. Die Zeit, alle Rezepte auszuprobieren, hatte er nicht. Und so bleibt es (vorerst) bei der gleichen Hosengröße.

Christian Hill / Barbara Kösling: Jenaer Tischgeschichten. Eine kulinarische Reise durch fünf Jahrhunderte, Sutton Verlag, Erfurt 2012, 128 Seiten, 19,95 Euro