16. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2013

Pathos, Kitsch & großes Kino

von Gabriele Muthesius

Dass Steven Spielberg großes Hollywood-Kino macht, aber keins „von der Stange“, deutete sich bereits mit seinem ersten Spielfilm „Duell“ von 1971 an. Dass er mehr kann als weiße Haie, Außerirdische, Indiana Jones und Dinosaurier, war allerspätestens mit „Schindlers Liste“ zur Kenntnis zu nehmen, und dass er Pathos selbst dann nicht scheut, wenn die Grenze zur Rührseligkeit und zum Kitsch mehr als bloß touchiert wird, war unter anderem bei „Die Farbe Lila“, aber auch in einigen Szenen von „Der Soldat James Ryan“ nicht zu übersehen. Der letztgenannte Film allerdings zeigte mit seiner 20-minütigen Eingangssentenz über die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 auf eine Kinogeschichte schreibende Art zugleich, dass Spielberg nicht minder befähigt ist, gnadenlos wirklichkeitsgerechte Bilder auf die Leinwand zu bringen. Das hat er zu Beginn seines aktuellen 150-Minuten-Epos „Lincoln“ erneut unter Beweis gestellt – mit einer Momentaufnahme aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, einem Gemetzel von so animalischer Brutalität, das jede Heroisierung von Krieg à la „In Stahlgewittern“ als das entlarvt, was sie ist: hohles, abartiges Umlügen von Barbarei in etwas Verehrungswürdiges. Ansonsten aber ist „Lincoln“ eine solch’ geballte Ladung an Pathos, Rührseligkeit und Kitsch, das sie in summa kaum zu überbieten sein dürfte.
Hier könnte die Besprechung enden, wenn dieser Streifen nicht eben doch von einem der professionellsten – auch im Sinne von klügsten und einfühlsamsten – Filmemachern stammte, die Hollywood je hatte. Und der hat trotzdem einen höchst fesselnden Film darüber gemacht, wie sich Politik, wie sich Machtpoker zur Durchsetzung politischer Interessen und Ziele in einer parlamentarischen Demokratie vollzieht, selbst wenn die tonangebenden Protagonisten sehr ehrenwerte Männer in der nichtmafiosen Bedeutung des Wortes sind.
Lincoln wollte die Sklaverei, eine der Hauptursachen der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und des Bürgerkrieges, ein für allemal abschaffen, und das ging staatsrechtlich nur über einen entsprechenden Zusatzartikel zur US-Verfassung, der anschließend von keinem Gericht mehr zu kippen war. Lincoln brauchte dazu eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Kongresses. Der Senat hatte diesem so genannten 13th Amendment bereits zugestimmt, im Repräsentantenhaus aber verfügten Lincolns Republikaner nicht über die erforderliche Stimmenanzahl. Es wurden 20 Abtrünnige von den gegnerischen Demokraten benötigt, die als Partei die Abschaffung der Sklaverei ablehnten.
Der Film spielt im Wesentlichen im Januar 1865, in den entscheidenden Tagen vor dem Votum über den Zusatzartikel. Zu diesem Zeitpunkt waren die Südstaaten – vom Kriege genauso ausgeblutet wie der Norden – bereit, den Bürgerkrieg durch Vereinbarung zu beenden. Lincoln wusste jedoch, wenn deren Abgeordnete erst in den Kongress zurückkehrt sein würden, wäre eine gesetzliche Abschaffung der Sklaverei nicht mehr zu erreichen. Und was tat der Präsident? Er ließ eine Verhandlungsdelegation des Südens fern von Washington festhalten, verlängerte dadurch sehenden Auges das Blutvergießen auf den Schlachtfeldern und besorgte sich durch Korruption, durch das Angebot zur Vergabe von Staatsposten an Abgeordnete der Demokraten, die notwendige Stimmenmehrheit. Sein Ziel der Befreiung von vier Millionen farbigen Sklaven und die damit verbundene Aussicht auf eine nach christlichen Maßstäben gerechtere Gesellschaft ließen Lincoln trotz großer Gewissensqualen und einer tiefen persönlichen Angst als Vater, dass einer seiner Söhne noch in den letzten Zügen des Bürgerkrieges umkommen könnte, nicht nur zu diesen schmutzigen Tricks greifen, sondern am Tage der Abstimmung, am 31. Januar 1865, auch noch selbst mit einer uneidlichen Falschaussage gegenüber dem Repräsentantenhaus Einfluss nehmen. Mit Erfolg. Der 13. Verfassungszusatz passierte das Repräsentantenhaus mit einer Mehrheit von zwei Stimmen.
Unter den Bedingungen der Demokratie, so in der mehrheitlichen Interpretation der Rezensenten die unüberhörbare Botschaft Spielbergs, bedürften hehre Ziele zu ihrer Durchsetzung bisweilen unmoralischer, illegaler, selbst krimineller Mittel beziehungsweise rechtfertigten den Rückgriff auf solche. Dass dieser Film just zu Beginn der zweiten Amtsperiode von Barack Obama – Spielberg hatte dessen Wahlkampf mit einer Million Dollar und auch anderweitig unterstützt – in die amerikanischen Kinos kam, ist dabei als Bekundung von Empathie für dessen schwierige Lage, ja geradezu als Aufforderung an Obama gewertet worden, seine (guten) politischen Ziele gegebenenfalls à la Lincoln zu verfolgen.
Ob das in den Augen der betreffenden Rezensenten auch den völkerrechtswidrigen Einsatz von Killer-Drohnen auf fremden Territorien, den Obama in seiner ersten Amtsperiode stark forciert hat, und dabei die billigende Inkaufnahme der wahllosen Tötung von Frauen und Kindern einschließt, sei hier nur deshalb dahingestellt, weil angesichts von Spielbergs gesamtem Œuvre und auch seiner Vita und seiner öffentlichen Äußerungen eine durchaus andere Interpretation seiner Intentionen die zutreffendere sein könnte: Nur Gründe, die Menschheitsfragen, die einen großen Teil einer Gesellschaft berühren sowie Ausnahmesituationen, in denen sich ein fundamentales Übel, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, auf unabsehbare Zeit verlängern würde, rechtfertigen in einer Demokratie den Einsatz undemokratischer Mittel. Vor allem aber dürfen selbst in derartigen Fällen bestimmte Grenzen nicht überschritten werden. (Lincoln ließ Posten anbieten, um Gegner zu bestechen, schloss jedoch, auch als es Spitz auf Knopf stand, den direkten Kauf von gegnerischen Abgeordneten aus.) Diese Botschaft könnte Spielberg im Sinn gehabt haben, als er mit Blick auf Obama sagt: „Vielleicht ist der Film für ihn eine Inspiration. Präsidenten interessieren sich ja für nichts mehr als für andere Präsidenten.“
Was den Film überdies sehenswert macht, sind zwei schauspielerische Leistungen der Ausnahmeklasse. Daniel Day-Louis gibt einen zutiefst menschlichen Lincoln. Dessen selbstquälerische Gewissenentscheidungen folgen keinem simplen Schwarz-Weiß-Schema, und er hält selbst unter größtem Druck und in schier ausweglosen Momenten an seinem Glauben, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, mit Lutherischem Impetus („Ich kann nicht anders. Hier stehe ich.“) fest. Er bleibt unbeugsam, obwohl er seiner farbigen Hausangestellten gestehen muss „Ich weiß nichts von Euch.“ und obwohl er auf die Frage, wie sich eine plötzliche Befreiung von Millionen von Menschen aus der Sklaverei auf Land und Gesellschaft auswirken wird, keine Antwort zu geben vermag.
Und dann ist da noch der ewig grantelnde große Leinwandschweiger Tommy Lee Jones, in dessen Gesicht zahllose, zerklüftete Falten mehr über das Leben erzählen, als er in seinen Filmen in der Regel an Text zu sprechen hat. Sein Antlitz ist auch dieses Mal sehr präsent auf der Leinwand, doch hat er zugleich eine der politisch und dramaturgisch wichtigsten Sprechrollen in diesem Film – als Thaddeus Stevens, radikaler demokratischer Kongress-Abgeordneter, der über Lincolns Ziele noch weit hinauszugehen bereit ist – bis zu tatsächlicher Rassengleichheit einschließlich der Gewährung sämtlicher Bürgerrechte – und der den Präsidenten deshalb mit eigenen politischen Schachzügen unterstützt.

„Lincoln“, Regie: Steven Spielberg; derzeit in den Kinos.